»Um halb eins.«
Anke nickte und spürte immer deutlicher, dass die Theorie, die sich schon in ihrem Kopf anbahnen wollte, nicht mehr standhalten konnte. Eigentlich war sie froh darüber, weil sie Susi vertraute.
»Was denkst du?«, hakte Erik nach.
»Ich hatte die fixe Idee, dass Susi mit ihren Freundinnen das Fahrzeug von Sybille Lohmann von der Straße abgedrängt hatte. Aber eine Party in den Ausmaßen, wie Susi mir berichtet hatte, ist um halb eins nicht zu Ende.«
»Das muss aber nicht bedeuten, dass die drei bis zum Schluss auf dem Fest waren. Frag doch einfach mal nach, um wie viel Uhr die drei losgefahren sind.«
Plötzlich wurde die Tür ohne anzuklopfen geöffnet und Claudia trat ein.
»Wir haben endlich den Sohn der Toten ausfindig gemacht. Er befindet sich im Verhörraum«, sprudelte sie los. »Erik, kommst du bitte mit. Wir beiden sollen das Verhör durchführen!«
»Warum Verhör?«, staunte der. »Ist der Sohn verdächtig?«
»Das kann man wohl sagen. Er wollte sich einer Befragung entziehen. Daraufhin haben wir ihn mitgenommen.« Claudia wirkte ungeduldig.
Erik folgte ihr. Anke blieb allein in ihrem Büro zurück.
Sie blätterte in den Akten, als ihr Telefon klingelte. Es war Susi, ihre Hebamme. Sie klang verzweifelt, als sie sagte: »Ich habe wieder einen Drohanruf bekommen.«
»Was hat er gesagt?«
»Er sagte, dass ich diesmal mit meinem Leben bezahle.« Sie begann zu schluchzen.
»Was bezahlen?«, hakte Anke nach.
»Genaueres hat er nicht gesagt. Ich habe große Angst. Was soll ich machen?«
»Ich muss meinen Chef fragen, ob wir eine Fangschaltung an dein Telefon anschließen dürfen.« Sie konnte Forseti in dieser Hinsicht allerdings schlecht einschätzen. »Wie viel Uhr war es denn, als du mit deinen beiden Freundinnen die Party verlassen hast?«
Susi überlegte eine Weile und gestand zögernd: »Das weiß ich nicht mehr so genau. Wenn ich besoffen bin, habe ich es nicht mehr so genau mit der Uhrzeit.«
»Ungefähr?«
»Ein Uhr würde ich sagen. Ich weiß, dass es relativ früh war. Da wir schon früh angefangen hatten, waren wir umso früher fertig.«
Das war alles andere als zufrieden stellend. Mit solchen vagen Angaben den Chef von einer Fangschaltung zu überzeugen, war sicherlich ein hartes Stück Arbeit. Zielstrebig ging sie zum Büro ihres Vorgesetzten, aber es war leer. Sie fand ihn auf der gegenüberliegenden Seite des Verhörzimmers, von wo aus man alles durch den Einwegspiegel beobachten konnte.
Erik und Claudia saßen einem jungen Mann gegenüber, der äußerst gepflegt und beherrscht wirkte. Anke war über diese Erscheinung überrascht. Sie hatte etwas ganz anderes erwartet. Der junge Mann machte nicht den Eindruck, als handelte er unüberlegt oder hitzköpfig. Mit vorbildlicher Haltung saß er da und wirkte äußerst ruhig, so als könnten die vielen Fragen, die auf ihn einstürmten, ihn nicht im Geringsten berühren. Das Einzige, was auffällig war, waren seine roten Augen. Er hatte geweint.
»Ist er verdächtig?«, fragte Anke.
»Er hat bis jetzt noch nichts ausgesagt, was von einem Verdacht ablenken könnte«, lautete Forsetis Antwort.
Anke wartete, bis Erik und Claudia eine Pause einlegten und das Verhörzimmer verließen. Erst dann trug sie vor, was sie auf dem Herzen hatte: »Ich bitte um eine Fangschaltung bei Susi Holzer. Sie wird mit Drohanrufen belästigt und hat Angst.«
Der Hauptkommissar schaute Anke ungläubig an, bis er endlich reagierte: »Sind wir hier, um verängstigte Mädchen in Sicherheit zu wiegen?«
»Nein, wir sind hier, um neben der Aufklärung von Tötungsdelikten auch potenzielle Tötungsdelikte zu verhindern«, reagierte sie schlagfertig.
Forseti zog seine rechte Augenbraue hoch, ein Zeichen seiner Überraschung, steckte seine rechte Hand in die Hosentasche und ging einige Male auf und ab, bis er endlich erwiderte: »Was rechtfertigt Ihre Behauptung eines potenziellen Tötungsdelikts?«
Sie schilderte ihm das Gespräch mit Susi Holzer und fügte ihre Vermutung hinzu, dass Susi an der Unfallstelle vorbeigekommen sein könnte, ohne sich dessen bewusst zu sein.
»Das Auto hat gebrannt«, stellte Forseti den Sachverhalt dar. »Wie kann Susi Holzer an der Unfallstelle vorbeigefahren sein, ohne sich dessen bewusst zu sein?«
Anke überlegte kurz, weil sie die Ironie seiner Frage nicht überhört hatte. Die Situation war brenzlig, weil Susi ihr anvertraut hatte, dass sie betrunken Auto gefahren war. Aber im Nachhinein konnte ihr das nicht mehr zum Nachteil gereichen, überlegte sie und antwortete wahrheitsgetreu.
Erik und Claudia traten hinzu. Claudia runzelte die Stirn und fragte: »Gehen wir jetzt jedem Hirngespinst nach?«
»Ich überlege auch, welchen Zusammenhang Sie da sehen wollen«, stimmte der Vorgesetzte Claudia indirekt zu.
Dabei schauten alle Anke so erwartungsvoll an, dass sie schon wieder zu schwitzen begann. Sie fühlte sich hilflos, weil der Faden, den sie in ihrem Geiste gesponnen hatte, in der Tat zweifelhaft war. Aber es war besser als nichts, oder das, was die lieben Kollegen, die sie gerade anstarrten, vorzubringen hatten. Also nahm sie sich zusammen und schoss zurück: »Sehen Sie ihn nicht?«
Forseti verzog ärgerlich das Gesicht, reagierte aber beherrscht: »Wir werden keinen groß angelegten Lauschangriff starten ohne stichhaltige Beweise. Zunächst warten wir das Ende unseres Verhörs mit Sven Koch ab, bevor ich die weiteren Schritte überdenke.«
Anke war enttäuscht, allerdings mehr über ihre eigene Unbeherrschtheit als über die Reaktion des Vorgesetzten.
Claudia bewegte sich langsam auf die Tür zum Verhörraum zu. Doch als sie bemerkte, dass Erik ihr nicht folgte, blieb sie stehen und schaute ihn erwartungsvoll an. Er verstand die Geste sofort und beeilte sich. Anke und Forseti blieben auf der anderen Seite des Raums, um das weitere Gespräch beobachten zu können. Der erste Eindruck, den Anke von dem jungen Mann bekommen hatte, blieb. Er wirkte überzeugend mit seinen Antworten, war nicht aus der Ruhe zu bringen und ließ keinen Zweifel daran, dass er darunter litt, seine Mutter verloren zu haben.
Claudia fragte in scharfem Tonfall: »Stimmt es, dass Sie sich am Samstagabend, kurz vor dem Tod Ihrer Mutter, noch heftig mit ihr gestritten haben?«
»Ja, das stimmt.«
Diese Antwort verblüffte nun alle.
»Über was haben Sie sich gestritten?«
»Meine Mutter wollte verreisen, ich war dagegen.«
»Wohin wollte Ihre Mutter verreisen?«
»Sie sagte es mir nicht.«
»Sagten Sie nicht, Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter sei immer gut gewesen?«, hakte nun Erik nach.
»Was hat das damit zu tun?«, hielt Sven Koch dagegen. »Sie hat die Lebensversicherung ihres verstorbenen Mannes ausgezahlt bekommen und wollte damit ein neues Leben anfangen. Ich war darüber nicht glücklich, weil ich auf keinen Fall wegziehen wollte. Das setzt aber nicht voraus, dass ich sie deshalb umbringe.«
»In dem Fall sind Sie allerdings der Alleinerbe, wenn ich das richtig verstehe?«, schaltete Erik sofort.
»Na, herzlichen Glückwunsch«, bemerkte Sven abfällig.
»Ganz genau! Je nachdem, wie hoch die Versicherungssumme ist, kann man Sie doch beglückwünschen«, trieb Erik den Spott weiter.
»Ach so, darauf läuft das hinaus«, schimpfte Sven Koch. »Ich hatte bis Samstagabend nicht gewusst, dass sie eine Summe der Lebensversicherung erwartete. Wie sollte ich in der Kürze der Zeit ein Verbrechen planen und ausführen?«
»Stimmt!