»Wir werden nicht umhinkönnen, das Fahrzeug in unserem Kriminallabor zu untersuchen«, stellte Anke fest und rief sofort den Teamleiter der Spurensicherung, Theo Barthels an.
5. Kapitel
Wie begossene Pudel standen die drei Frauen vor dem Haus und schauten beim Abtransport des Autos zu.
»Du glaubst also, dass wir ein Auto von der Fahrbahn abdrängen ohne es zu bemerken?«, schimpfte Susi, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war.
»In eurem Zustand ist so etwas leicht möglich«, beharrte Anke. »Eure Schilderung von der Sternschnuppe hat mich erst auf diese Idee gebracht. Das war keine Sternschnuppe, das war ein entgegenkommendes Fahrzeug, dass euch schon verdammt nah gekommen sein muss, sonst hättet ihr das Licht nicht so deutlich wahrgenommen.«
Die drei Freundinnen kehrten zurück in das Zimmer im Obergeschoss des Hauses. Ankes folgte ihnen.
Rita und Annette setzten sich an den Tisch und schauten sich viel sagend an. Susi warf sich empört auf das Sofa und murrte: »Warum ruft dieser Verrückte nur mich an? Wir waren zu dritt im Auto.«
»Wo haben Rita und Annette gesessen?«
»Auf dem Rücksitz«, antwortete Rita und kicherte los. Sie hatte bereits die Antwort auf Susis Frage: »Der Spinner hat uns nicht gesehen.«
»Wie nahe geht euch Sybille Lohmanns Tod wirklich?« Anke wurde ungeduldig. Das Gekicher nervte.
»Das geht dich nichts an«, konterte Annette giftig.
»Okay. Aber hört mit eurem dämlichen Lachen auf! Die Angelegenheit ist keineswegs lustig.«
»Dann tu etwas dagegen. Es liegt an dir, ob Susi vor diesem Fremden geschützt werden kann oder nicht!«
»Leider ist es nicht so, sonst hätte ich bereits eine Fangschaltung installieren lassen«, wehrte Anke ab. Bei diesem Streitgespräch spürte sie wieder ihre schmerzliche Sehnsucht nach ihrem ehemaligen Chef Kullmann. Bei ihm hätte sie mit Sicherheit sofort die Zustimmung bekommen, weil er ihrem Urteilsvermögen vertraut hatte. Jetzt brauchte sie Beweise und diese würden hoffentlich an Susis Auto gefunden werden.
Anke wollte gerade gehen, als es an der Tür klingelte.
Susi eilte an ein Fenster zur Straßenseite und rief: »Das ist Emil.«
»Den will ich jetzt nicht sehen«, stellte Annette klar.
Anke spürte, dass sich etwas Interessantes anbahnte. Sachte ließ sie sich auf das Sofa sinken. Zum zweiten Mal an diesem Tag sah sie den jungen Mann mit der dicken Hornbrille und dem pickeligen Gesicht. Fragend schaute Emil Tauber auf Anke und wandte sich im Flüsterton an Susi: »Wer ist das?«
Sein Versuch, leise zu sein, gelang ihm keinesfalls, weil Anke alles verstand. Seine Aussprache klang gepresst, als lispelte er. Außerdem sah Anke sofort, dass er beim Reden spuckte, weil Susi sich demonstrativ mit ihrer Hand durchs Gesicht fuhr.
Mit den Worten: »Ich bin Anke Deister, die Kriminalbeamtin, die den Fall Sybille Lohmann bearbeitet«, antwortete sie an Susis Stelle.
»Was wollen Sie hier? Ich habe den Unfall gemeldet, nicht Susi«, reagierte er trotzig, wobei das ›S‹ wie ein Zischlaut klang. Sein Gesicht war übersät mit knötchenartigen Geschwülsten, die teilweise Gewebsflüssigkeit abstießen. Seine Brille wog so schwer, dass sie seine dicke, plumpe Nase eindrückte, seine Lippen waren rissig und spröde.
»Susi Holzer ist meine Hebamme, das genügt Ihnen hoffentlich als Grund für meinen Besuch.«
Die beiden Joggerinnen verabschiedeten sich überstürzt. Anke spürte immer deutlicher, dass es dort mehr gegeben hatte, als eine Party mit viel Alkohol und Sternschnuppen auf dem Nachhauseweg. Auch Emil verabschiedete sich. Als Stille eingekehrt war, fragte sie: »Was hatte das zu bedeuten?«
Susi räusperte sich, als müsste sie sich gut überlegen, was sie nun sagte. Dann meinte sie: »Emils Anwesenheit ist nicht erwünscht.«
»War er auch auf der Party Samstagnacht?«
»Nein! Niemand lädt Emil ein«, empörte Susi sich.
»Wie kommt es dann, dass er auf derselben Straße nach Hause gefahren ist wie du?«
»Das kann nur Zufall sein.«
»An Zufälle glaube ich nicht«, bemerkte Anke dazu, erhob sich schwerfällig vom Sofa und ließ eine nachdenkliche Susi allein zurück. Ihre Fröhlichkeit und ihr Lachen waren verschwunden.
Im Landeskriminalamt waren inzwischen alle Kollegen von ihren Außeneinsätzen eingetroffen. Rasch huschte Anke in ihr Zimmer, um nicht ihrem Chef zu begegnen. Ihre eigenmächtige Aktion würde er bestimmt nicht gutheißen. Aber sie hatte Pech! Forseti saß an ihrem Schreibtisch! Anke erschreckte so sehr, dass sie einen Schrei ausstieß.
»Ich bin derjenige, der hier schreien müsste«, versetzte ihr Chef kühl.
Ankes Knie wurden ganz zittrig. Schnell setzte sie sich auf den Besucherstuhl, bevor sie umfiel, und wartete auf die Tirade, die sie nun befürchtete.
»Wie ich aus zuverlässiger Quelle erfahren habe, waren Sie bei Susi Holzer«, leitete er mit betonter Höflichkeit ein. Doch diese Zurückhaltung sollte nicht von langer Dauer sein, denn schon sprang er auf, so dass er sie von oben herab ansah, während er anfügte: »Was fällt Ihnen ein, auf eigene Faust das Team unserer Kriminaltechniker einzuspannen, um einem Verdacht nachzujagen, der jeglicher Grundlage entbehrt?«
Anke erschrak vor dieser Heftigkeit.
»Herr Barthels, treten Sie ruhig ein«, rief er noch lauter.
Theo Barthels betrat das Zimmer, schaute Anke verlegen an und berichtete auf Forsetis Bitte hin: »Es wurden keine Spuren an Susi Holzers Wagen gefunden, die auf einen Zusammenstoß mit dem Unfallwagen hindeuten.«
Anke hatte sich tatsächlich verrannt, das musste sie sich eingestehen. Schweigend saß sie da und wartete darauf, welche Konsequenzen ihr Schritt für sie haben würde. Zunächst blieb alles still, bis Theo Barthels leise anfügte: »Tut mir leid, Anke.«
»Danke, Sie können jetzt gehen«, befahl Forseti.
Dieser Aufforderung folgte der Chef der Spurensicherung nur zu gern.
Ankes Anspannung wuchs ins Unermessliche. Hatte sie sich eine Versetzung eingehandelt?
Doch es kam anders. Zu ihrem Erstaunen änderte Forseti plötzlich seinen Tonfall, lächelte und meinte: »Sie sind schwanger, deshalb verzeihe ich Ihnen diesen Fehltritt. Ich weiß, dass Sie gerade eine Zeit durchmachen, in der Sie unter einer starken psychischen Belastung stehen. Wenn das Kind einmal da ist, hoffe ich, dass solche Entgleisungen nicht mehr vorkommen werden.«
Er stand auf, ging langsam um den Schreibtisch herum an Anke vorbei. In ihrer Nähe blieb er stehen und sprach weiter: »Sie werden bis zu Ihrer Entbindung nur noch am Schreibtisch arbeiten. Das ist keine Strafe, sondern eine Vorsichtsmaßnahme.«
Anke spürte große Hoffnungslosigkeit in sich aufkeimen.
Bevor er ihr Zimmer verließ, wagte sie sich zu fragen: »Woher kennen Sie sich so gut mit schwangeren Frauen aus? Haben Sie Kinder?«
Es war das erste Mal, dass Anke die Kühnheit besaß ihn etwas Privates zu fragen. Aber ihre Neugierde war so groß, dass sie einfach nicht anders konnte. Außerdem beschlich sie das Gefühl, dass ihre Schwangerschaft in diesem sonst so unnahbaren Menschen etwas berührte, was ihr in dieser peinlichen Situation sogar nützlich geworden war.
Prüfend schaute er sie an, als wollte er abschätzen, ob es richtig war zu antworten. Dann bewegte er sich auf die Tür zu, dass Anke glaubte, mit ihrer Frage einen großen Fehler gemacht zu haben. Er öffnete sie, verschloss sie jedoch wieder von innen, kam einige