Heimat, schoss es ihm durch den Kopf.
»Jan! Da bist du ja wieder!« Michis fröhliche Begrüßung drang in seine Ohren und veranlasste ihn, sich zur Rezeption zu drehen.
Der dunkelhaarige attraktive fünfundzwanzigjährige Mann strahlte ihn an. »Wie geht es dir?« Flott umrundete dieser den Holztresen und trat zu ihm. »Wie war das Wochenende? Hast du dich mit Liza ausgesprochen?«
Wie vermutet! Alle wussten davon!
Kruzitürken!
Jan schloss die Tür. »Hat Tina dir davon erzählt?«
»Tina?« Michi runzelte die Stirn. »Was soll sie mir denn erzählt haben?«
»Nun ja … Dass ich bei Liza war.«
Was denn sonst?
»Ach das!« Kopfschüttelnd vollführte der Kollege eine wegwerfende Handbewegung. »Nein. Ich habe bloß gehört, wie Manfred mit dir telefoniert hat.«
Hatte er etwa gelauscht?
»Aber ich habe nicht gelauscht!«, warf er im selben Atemzug beteuernd ein, die Arme in einer beschwichtigenden Geste leicht angehoben. »Ich bin auf die Toilette gegangen. Nun … und Manfreds Tür war nicht ganz geschlossen gewesen. Da habe ich ungewollt ein paar Gesprächsfetzen mitbekommen.«
Typisch Michi!
Wie er selbst wollte sein Kollege keine Fehler machen. Wie er selbst war auch er hochsensibel. Doch eines besaß Michi, worauf er niemals zurückzugreifen in der Lage sein würde: verwegene Extraversion.
Für Michi stellte das unbefangene Gespräch mit fremden Personen – insbesondere mit hübschen Frauen – kein sonderliches Problem dar. Ein wenig herantasten, die Frau anlächeln – und schwups hatte sein Kollege eine reizende Gesprächspartnerin für den Abend an seiner Seite.
»Dann hat Tina nichts verlautet?«
…
Weshalb vermutete er erneut einen Vertrauensbruch seitens seiner besten Freundin?
Es musste wohl an seiner Vergangenheit liegen.
»Nein … absolut nicht.« Michi legte die Handinnenflächen aneinander. »Aber bitte verrate Manfred nichts von meinem ungewollten Lauschangriff. Es war keine Absicht. Ich –« Michis seinen Körper und Geist überschwemmende Verlegenheit brachte Jans Herz leicht aus dem Rhythmus. »Als ich das gehört habe, habe ich mich so sehr für dich gefreut. Ich habe gar nicht mehr daran gedacht, schnell weiterzugehen. Außerdem –« Verzweiflung in seinen Augen liegend gestikulierte der junge Mann mit den Händen. »Ein jeder hat doch bemerkt, wie sehr sie dir am Herzen liegt.«
Zäh fließende an Metros Kühllager erinnernde Kälte kroch über Jans Rücken, lediglich um sich keinen Augenblick später in einen pyroklastischen Strom zu verwandeln.
»Ein jeder?« Seine Wangen begannen zu prickeln und seine Muskeln sich zu versteifen. »Wirklich?«
Etwa sogar die Reinigungsdamen und geringfügig Beschäftigten?
…
Womöglich sogar sämtliche Hotelgäste?!
…
Wenn er da an die Situation mit Theo zurückdachte, schien seine Vermutung immer wahrscheinlicher.
O Grundgütiger!
»Jan.« Michi legte die Hände auf seine Schultern. »Jetzt kennen wir dich schon so lange. Glaubst du, da würde nur einer nicht bemerken, wenn du eine Frau magst? … Wenn du an Liebeskummer leidest?«
Jan schluckte.
»Sonst hältst du immer extremen Abstand zu allen Gästen und Kollegen. Aber bei Liza warst du total anders. Du bist mit ihr spazieren gegangen, du hast dich bei ihr eingehakt –« Er zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Glaubst du, ich habe das nicht gesehen?« Ein auftretendes Grinsen ließ Jan beträchtlich heftiger erröten. »Ein Rezeptionist bemerkt alles.« Es folgte eine kurze Kunstpause, in der er am liebsten im Boden versunken wäre. »Also sag nicht, du wärst darüber überrascht.«
Jan räusperte Unsicherheit davon. »Nun … ja … eigentlich schon. Es war mir nicht bewusst, dass ich von euch solchermaßen beobachtet werde.«
Wie denn auch? War er bekanntlich mehr damit beschäftigt gewesen, diese schmerzende Sehnsucht nach Liza niederzudrücken sowie seinen Job vernünftig zu erledigen.
Des Rezeptionists Grinsen wuchs an. »Also beobachten würde ich das jetzt nicht grad nennen – eher ein Auge auf dich werfen.« Dies gesprochen ließ Michi von Jans Schultern ab und trat einen Schritt zurück. »Aber lassen wir das Thema! Sag mir lieber, wie es dir ergangen ist. Ich sterbe vor Neugier.«
»Also … ähm.« Erinnerungen an den wundervollen Morgensex trieben ihm den Schweiß aus den Poren. »… Schön.«
Michi begann zu lachen. »Dann seid ihr jetzt also zusammen?«
»Ja … ja, wir sind zusammen.« Unmöglich die Worte zurückzuhalten, sprudelten sie voller Begeisterung aus ihm hervor.
Er wollte es Michi sagen. Er musste es Michi sagen. Er wollte der ganzen Welt offenbaren, wie dankbar und glückselig er sich angesichts dieses wundervollen Umstands fühlte.
»Wir sind zusammen. Das sind wir. Endlich.« Wort um Wort nahm die Lautstärke seine Stimme ab, und ansteigende Geborgenheit breitete sich in seinem Innersten aus. »Liza gehört zu mir. Sie ist alles, was ich mir jemals gewünscht habe.«
»Das ist ja wundervoll!« Sein Kollege strahlte. »Ich freue mich für euch.«
»Danke.« Er schenkte ihm ein gewaltiges Lächeln. »Danke dir.«
»Jan!«
…
Herr Weiß.
Frische Furcht in seine Seele schleichend drehte Jan sich nach rechts.
»Komm in mein Büro.« Der Hotelbesitzer winkte ihm zu – ein breites Lächeln im Gesicht tragend.
»Die Einzelheiten kannst du mir ja in der Mittagspause verraten«, flüsterte Michi, ehe dieser ihm einen sanften Klaps auf den Rücken verpasste und zurück hinter die Rezeption huschte.
Jan wollte noch etwas erwidern, da ihm Manfreds Aufforderung, das eben geführte Gespräch sowie seine unzuträgliche überhandnehmende Furcht allerdings vollends den Verstand lahmlegten, nickte er dem Arbeitskollegen lediglich kurz zu und eilte sodann zum Chef.
»Wie geht es Liza?«, war Manfreds erste Frage, während sie beide den Korridor entlangschritten. Und die Zweite: »Hattet ihr ein schönes Wochenende?«
»Ihr geht es gut … Nun, jetzt jedenfalls.«
Dass es Liza noch am Freitag hundsmiserabel ergangen war, hatte er nicht bloß durch ihre Erzählungen, sondern bereits durch ihre verweinten Augen erfahren, mit welchen sie ihn erschrocken-verunsichert gemusterte hatte – dort im Regen …
Manfred öffnete die leicht knarzende Bürotür und machte ihn mit einer Handgeste darauf aufmerksam, zuerst einzutreten.
Wortlos tat Jan wie geheißen. Ehe er sich auf den rechten Holzsessel niederließ, wartete er bis der Hotelbesitzer die Tür verschlossen und sich auf dessen Bürostuhl gesetzt hatte.
»Sie hat Depressionen, nicht?«
Jan lief ein kalter Schauer über den Leib. »Ja … ja, die hat sie. Ganz sicher sogar.«
Manfred wusste einfach alles. Es gab nichts, das ihm verborgen blieb. Nicht einmal die Sorgen seiner Gäste.
Zu Beginn hatte er sich über Herrn Weißs Einfühlungsvermögen regelmäßig gewundert. Später hatte er diese auf eine mögliche Hochsensibilität geschoben. Nun allerdings war ein für alle Mal klar: Dieser unscheinbare dickliche Mann besaß eine göttliche Gabe. Hier ging es nicht