Guerin nickte erfreut. Kein richterlicher Beschluss nötig, das fand er sehr anständig. Er schätzte, dass die Beamten, um alle Räume und Boote zu durchsuchen, mehrere Tage bräuchten. Nun, wenn er eines hatte, dann Zeit, und eine angenehme Beschäftigung war besser, als bloß Däumchen zu drehen. Hauptsache, die Gedanken blieben am Ball beziehungsweise am Fall. Schon oft hatte sich bei solchen scheinbaren Routinedurchsuchungen etwas ergeben, das seinen Gedanken eine neue Richtung gab.
Bald stellte Guerin fest, dass längst nicht alle auf dem Gelände herumstehenden Boote vor dem Verlassen geräumt worden waren. Unmengen von persönlichen Dingen wie Kleidung, Bücher, Kosmetikartikel und alte Lebensmittelkonserven füllten Regale und Schränke. Ein ausgezeichneter Platz für einen Clochard oder einen gesuchten Kriminellen, ging Guerin durch den Kopf. Was hier lagerte, reichte Monate oder sogar Jahre zum Überleben, inklusive Wohnen und Schlafen.
Dass der Tote in diese Kategorie gehörte, glaubte Guerin jedoch nicht. Der Täter schon eher. Natürlich brauchte auch so jemand ab und zu Bargeld. Gelegenheiten, um einsame Wanderer oder Radfahrer auszurauben und im Fluss verschwinden zu lassen, gab es ohne Frage jede Menge. Der Täter könnte das spätere Opfer zur Übernachtung auf einem stillgelegten Boot in der Werft eingeladen haben – leichtes Spiel mit einem Schlafenden. Kurzer Weg ins Wasser. Einen an sich sinnlosen Kopfschuss, um eine falsche Spur zu legen. Genügend Zeug, um eine Leiche zu beschweren, lag auch herum, ohne dass sein Fehlen irgendjemandem auffiele. Je länger Guerin darüber nachdachte, desto plausibler erschien ihm das Ganze. Er würde sich damit beschäftigen müssen, ob hier mehr Leute verschwanden als im landesüblichen Durchschnitt. Oder zumindest an anderen Flüssen in Frankreich.
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Die Truppe rückte früh am nächsten Morgen in der Werft an. Guerin hatte zehn Beamte mitgebracht, die sich so auf dem Gelände verteilten, dass sich niemand ungesehen davonschleichen konnte. Er hielt die Augen offen, ob jemand auf einem der alten Boote übernachtet hatte. Systematisch durchsuchten sie eine Kajüte nach der anderen. Guerins Gefühl erwies sich als richtig. Insgesamt fünf Personen holten er und seine Gendarmen aus den Kojen, zwei Pärchen und einen einzelnen Mann, jeweils aus verschiedenen Booten. Die Pärchen, die sich ausweisen konnten und aus der Gegend stammten, ließ Guerin bald wieder laufen, den Mann ohne Papiere dagegen vorläufig festnehmen.
Der verhaftete Typ schwieg eisern. Guerin ließ ihn erst mal in einem Einsatzwagen schmoren, während seine Spurensicherer weiter das Boot durchsuchten. Eine alte Peniche, die man schon vor langer Zeit auf Holzbalken ans Ufer gestellt hatte. Sie stand ganz hinten am Waldrand, umgeben von niederem Gebüsch. Ein deutlich erkennbarer Trampelpfad führte zwischen den Sträuchern hindurch zum Steg am Heck. Dass dieser Kahn nie wieder schwimmen würde, konnte sich auch ein Laie leicht ausrechnen. Durch die Ritzen der vermoderten Planken sah man teilweise ins Innere des Rumpfes. Da und dort wuchsen Grasbüschel auf dem Deck. An Stellen, wo Wind und Regen genug Material abgelagert hatten, um Wurzeln einen Halt und etwas Feuchte zu bieten, standen sogar kleine Stauden.
Die Kabine hingegen hatte sich erstaunlich gut gehalten, auch wenn die Bettwäsche vor Dreck starrte und es nach altem Schweiß und Essensresten müffelte. Der Fußboden war bedeckt mit Wollmäusen, Papierfetzen und Styroporverpackungen, dazwischen leere Flaschen und offene Konservendosen. Guerin rümpfte die Nase. Ein echter Messie! Offenbar hauste er hier schon seit einiger Zeit. In den Schränken fanden sich tatsächlich Essensvorräte für mehrere Monate. Dass sich der Bewohner nicht bloß von Konserven ernährte, bewiesen die herumliegenden Fast-Food-Verpackungen und leeren Weinflaschen.
Falls der Kerl Wertsachen besaß, bewahrte er sie allerdings woanders auf als hier. Außer einigen Münzen fanden sich weder Geld noch Schmuck oder Dokumente in der Kabine. Auch seine Hosentaschen enthielten abgesehen von Unrat und Kleinkram nichts von Belang. Seine für einen Obdachlosen recht umfangreiche Garderobe fand sich über mehrere Räume im Boot verteilt. Als Guerin sich ein Hemd genauer besah, stutzte er. Das Etikett war sauber herausgetrennt, nicht bloß abgeschnitten. Oft ein Hinweis auf gestohlene Ware oder auf Leute, die ihren normalen Aufenthaltsort zu vertuschen suchten.
Dasselbe Bild bei den übrigen Kleidungsstücken, unter denen sich elegante Anzugshosen und derbe Jeans in diversen Größen mischten. Ein ähnliches Bild bot sich bei den Schuhen: fünf Paare, drei Schuhnummern. Offenbar stammte die Kleidung von verschiedenen Personen. Womöglich auf all den hier liegenden Booten zusammengesucht. Oder von diversen Wäscheleinen geklaut. Die einzige Gemeinsamkeit der Stücke, alle waren gleich dreckig. Unterwäsche hingegen, schien rar zu sein. Davon besaß der Clochard nur zwei Garnituren. Die eine Unterhose trug er, die andere hing schlaff an einer Schranktür.
Messer oder übrige Dinge, die man als Waffe bezeichnen konnte, fand Guerin nicht. Er vermutete jedoch, dass der Typ nicht so friedlich lebte, wie es den Anschein hatte. Die meisten dieser Kerle waren erfahren im Umgang mit Behörden und vorsichtig genug, sich nicht mit verdächtigen Gegenständen erwischen zu lassen. Dafür sprach auch, dass er absolut keinerlei Fragen beantwortete. Sprechen konnte er allerdings: »Lasst mich frei, ihr Schweine! Reine Willkür ist das! Ich hab nichts getan. Ihr Knechte eines faschistischen Polizeistaats, lasst mich frei!«
Der will sich als linker Spinner darstellen, vermutete Guerin, aber dem ging er nicht auf den Leim. Die fehlenden Etiketten gaben den Ausschlag. Zu typisch für Kriminelle. Solange die Spurensicherung zu keinem klaren Ergebnis gelangte, musste er den Kerl vermutlich trotzdem bald laufen lassen. Guerin brauchte eine Spur. Ein Indiz oder einen Gegenstand, die zu einem Haftbefehl führen konnten.
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Muriel nutzte den späten Nachmittag für einen Besuch bei Meinrad Danner. Sie hatte kurz im Büro nachgesehen, wo seine Penichette, die Chantal lag. Immer noch bloß wenige Kilometer vom Bootsverleih entfernt. Danner schien keinen Ehrgeiz darauf zu verschwenden, möglichst weit zu kommen. Natürlich kannte Muriel die Stelle, an der er angelegt hatte. Ganz in der Nähe eines Restaurants, »dieses« Restaurants, aber das spielte für sie keine Rolle mehr. Inzwischen hatte das Haus täglich und fast rund um die Uhr geöffnet, ideal für Leute wie Meinrad, die sich gern kulinarisch verwöhnen ließen, ohne einen langen Weg nach Hause vor sich zu haben.
Auch Muriel selbst aß ab und zu dort. Man kannte sich schließlich und empfahl sich gegenseitig. So konnte sie Danner im Glauben lassen, dass sie einen Spaziergang mit anschließendem Bad geplant habe und bloß zufällig auf ihn gestoßen sei. Wie sie ihn einschätzte, würde er sie zum Essen einladen, sobald sie dieses Restaurant oder ein Hungergefühl auch nur erwähnte. Sie würde sich während des Besuchs entscheiden, wann es so weit war, auch darüber, wie der Abend enden sollte. Am Köder würde sie bei einem so dicken Fisch bestimmt nicht sparen.
Muriel stelle ihr Fahrrad beim Restaurant ab. Erst spazierte sie an Danners Penichette vorbei, die dieser vorschriftsgemäß am Ufer vertäut hatte.
Hohe Bäume beschatteten das Boot, sodass der Alte auf dem Oberdeck in einem Liegestuhl dösen konnte, ohne sich einen Sonnenbrand zu holen. Er reagierte nicht auf Muriel, die ihn aus den Augenwinkeln genau beobachtete, während sie vorbeischlenderte.
Ein kurzes Stück ging sie noch weiter, dann zog sie sich im Gebüsch um, also eigentlich aus. Den knappen Bikini hatte sie schon die ganze Zeit unter der Kleidung getragen. Sie gönnte sich ein ausgiebiges Bad, währenddessen sie immer wieder unauffällig zum Boot hinüberspähte. Danner regte sich die ganze Zeit über nicht.
Schließlich legte Muriel sich unter die Bäume. Strandtuch und Kosmetikartikel hatte sie in einer voluminösen Tasche bei sich. Als sie auf dem Handtuch lag und die Augen ihr zuzufallen drohten, sah sie vorsichtshalber auf die Uhr. Schon bald Essenszeit, dann würde sie ihn aufscheuchen. Wem sollte es verdächtig vorkommen, wenn sie zufällig einen Kunden am Fluss traf und sich nach seinem Befinden erkundigte? Seltsam könnte es eher anmuten, wenn sie einfach achtlos vorbeiginge.
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Kommissar Guerin stand kurz vor dem Feierabend, als Megane ihn anrief. Offenbar hatten die Techniker gerade die Schatzkiste des Clochards gefunden. Guerin bestand darauf, dass die Arbeit ruhen solle, bis er eingetroffen sei. Vielleicht bot der Inhalt eine Möglichkeit, sich dem Mann zu nähern, der weiterhin