Megane sah ihn entgeistert an. »Botschaften an andere Leichen, na klar! Sie hatten schon immer eine blühende Fantasie, Herr Doktor«, stichelte sie.
Guerin schüttelte den Kopf. »So abwegig finde ich das jetzt auch wieder nicht. Pflegen Sie denn keine Rituale, Madame, die an sich sinnlos sind?«
Megane schien skeptisch. »Geben Sie mir ein Beispiel, Herr Kommissar.«
»Salz über die Schulter werfen, Holz anfassen, darauf achten, mit welchem Bein Sie zuerst aufstehen …« Er stockte kurz. Seine Fantasie hatte ihm umgehend ein passendes Bild geliefert.
Sie schüttelte den Kopf. »Das wäre doch Blödsinn! Hier geht es darum, einen Mord zu vertuschen. Der Täter hat es uns leicht gemacht, seine Tat als solches zu erkennen. Ohne Not!«
»Das wird uns bestimmt noch eine ganze Weile beschäftigen«, sinnierte Guerin. »Weitere Auffälligkeiten?«, fragte er den Pathologen. »Gegenstände in den Taschen?«
Der Doktor schüttelte den Kopf. »Absolut nichts. Außer der Kette, natürlich.«
»Lassen sich Rückschlüsse aus den übrigen Verletzungen ziehen?«
»Hier, die kreisrunden Hämatome auf der Brust.« Er zeigte auf einige Kreuze auf der Skizze. »Scheint so, als wurde er mit einem harten Gegenstand unter Wasser gedrückt. Bestimmt kein Ruder oder ein Bootshaken. Eine kurze Eisenstange möglicherweise.«
»Sie haben doch bestimmt Fotos von den Abdrücken?«, fragte Guerin.
Doktor Pierre nickte. »Alles im Hefter, den ich für Sie zusammengestellt habe. Auch Röntgenbilder der paar Zähne, die man ihm noch gelassen hat.«
Guerin erhob sich. »Danke, Herr Doktor!«
***
Le tour lief in der letzten Woche. Guerin hatte inzwischen mit Megane unzählige Plätze am Oberlauf der Saône besucht, stets mit dem Foto des Toten und einem Muster der Ankerkette ausgestattet. Sie hatten Bootsbauer und Ladenbesitzer genauso befragt wie Hafenmeister und Gemeindeangestellte, Anwohner sowie Personal der Restaurants am Fluss und in der näheren Umgebung. Das Resultat: Keiner wollte den Mann jemals gesehen haben. So eine Kette dagegen hatte fast jeder schon einmal irgendwo bemerkt. Natürlich hatte Guerin den Hersteller gleich zu Anfang gesucht und auch gefunden. Diese Ketten wurden im ganzen Land überall verkauft; völlig illusorisch, damit auf irgendwelche brauchbaren Hinweise zu hoffen. Guerin vermutete, dass das gefundene Kettenstück irgendwo herumgelegen hatte und vom Täter entwendet worden war. Da es mit einem Schweißbrenner abgetrennt worden war, lag der Verdacht nahe, dass es sich um einen Zufallsfund des Mörders handelte. Schweißbrenner standen schließlich nicht an jeder Ecke herum und konnten auch nicht von jedermann ohne Fachkenntnisse benutzt werden. Guerin hoffte, dass jemand genau so ein Stück Kette vermisste. Dann hätte er schon mal einen Ort.
Vergeblich. Guerins Enttäuschung wurde durch die Umstände der Untersuchung gedämpft. Prachtvolles Wetter, jeden Tag im Freien und am Fluss. Er genoss es, die leicht bekleideten Urlauberinnen zu befragen. Wer konnte es ihm verdenken, dass er seinen Charme einsetzte, solange es der Wahrheitsfindung diente? Ohne, dass sie es abgesprochen hätten, übernahm Megane die Herren, bei denen sie mit ihrer einnehmenden Art meistens genauso gut ankam wie er bei den Damen. Außerdem wirkten sie in zivil und als Paar offenbar weniger wie Polizisten, eher wie Urlaubsbekanntschaften, mit denen sich die Touristen ganz locker unterhielten.
Trotzdem brauchte Guerin bald einen Fortschritt, sonst blieb der Fall unlösbar. Immer noch keine Anhaltspunkte, um wen es sich bei dem Toten handelte. Keine weiteren Erkenntnisse oder auch nur der vageste Hinweis, dass jemand glaubte, dem Opfer einmal begegnet zu sein. Sobald der Sommer zu Ende ginge, würde sich die gesamte auf den Tourismus ausgelegte Lebensweise entlang des Flusses verändern. Es war schon möglich, dass ein Zeuge sich später an etwas erinnerte, dem er heute keine Bedeutung beimaß. Ein Name zum Beispiel, oder einer dieser Zufälle, die ab und zu weiterhalfen.
Auch Megane blieb ihm ein Rätsel. Sie behandelte ihn, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Binnen Kurzem hatte sie seine Gewohnheiten und Vorlieben herausgefunden und sich darauf eingestellt, an sich nichts Ungewöhnliches – für eine verliebte Frau. Doch Gefühle schien sie nicht für ihn zu hegen. Ihr lasziver Gang, die zur Schau gestellten Reize, ihre Liebenswürdigkeit galten allen gleichermaßen, ohne dass er dabei besondere Absichten erkennen konnte. Dass sie eine Lesbe sein könnte, hatte Guerin rasch verworfen. Es knisterte durchaus manchmal, wenn eine zweite attraktive Frau erschien, allerdings nicht zwischen den Frauen. Nur eines fiel ihm auf: Megane schien es nicht zu mögen, wenn eine ihr möglicherweise ebenbürtige Konkurrenz auftauchte. Ein eher männliches Verhalten, fand Guerin, nur ohne das übliche Gehabe. Es gab auch weder Gehässigkeiten noch Sticheleien; Megane legte sich höchstens noch mehr ins Zeug.
4. Kapitel
Muriel saß an der Rezeption und sah nachdenklich dem Rentner Meinrad Danner hinterher, der sich gerade verabschiedet hatte. Der Mann schien das ideale Opfer zu sein. Er hatte letztes Jahr schon ein Boot gemietet und kannte den Fluss und die Penichette.
Tatsächlich war er in diesem Jahr ohne die nervige Begleiterin erschienen, die Muriel damals davon abgehalten hatte, sich ihm zu nähern. Auf sanftes Nachfragen hin hatte der Alte durchblicken lassen, dass sich seine Lebensgefährtin aus dem Staub gemacht habe. Dämliche Kuh! Aber um so besser für Muriel. Nur eins ließ sie zögern: Der Mann stammte aus dem knapp hundert Kilometer entfernten Basel. So kurz nach der Polizeiaktion, die sie mit ihrer letzten »Sichtung« ausgelöst hatte, schien ohnehin erhöhte Vorsicht geboten. Normalerweise bevorzugte sie Herren aus Norddeutschland oder wenigstens aus dem Osten der Republik. Allerdings lief ihr die Zeit davon. In sechs Wochen würde der Tourismus an der Saône deutlich abflauen. Dann sanken nicht nur die Temperaturen, sondern auch die Preise. Mit armen Schluckern, die sich die Hauptsaison nicht leisten konnten, wollte sie sich nicht abgeben. Im Fluss mochte man dann auch nicht mehr baden, geschweige denn die Nächte draußen verbringen.
Muriel straffte sich. Sie vermochte sich durchaus eine Ehe mit einem vermögenden Herrn vorzustellen – wenn sie nicht zu lange dauerte und er sie dafür mit einem ansehnlichen Erbe entschädigte. Allerdings hatte sie diese Möglichkeit eher für später vorgesehen, wenn ihre Reize langsam zu schwinden begannen. Jetzt wollte sie ihren Winterwohnsitz im Elsass noch nicht aufgeben. Andererseits, vornehm in Basel leben? Sie nahm sich vor, an einem freien Tag einmal hinzufahren und sich anzusehen, wo und wie der alte Danner wohnte. Die Adresse hatte er natürlich angegeben, wie alle, die bei ihr ein Hausboot mieteten. Besser einen alten Mann erdulden als einen kargen Winter, dachte sie. Immerhin wusste sie schon ziemlich viel über ihn. Auf jeden Fall ein großzügiger Typ. Seine Verflossene hatte vor Schmuck und teuren Kleidern nur so gestrotzt, und er hatte Muriel bei der Schlüsselübergabe eben mehr als deutlich gezeigt, dass er ihren Verlockungen keineswegs abgeneigt gegenüberstand. Außerdem hatte er zuvor mehr über sich preisgegeben, als klug für ihn gewesen wäre. Auch das es keine lästigen Nachkommen gab, die einer Lebensgefährtin das Erbe streitig machen konnten.
***
Guerin schlenderte durch eine Bootswerft, die er sich früher schon mal kurz angesehen hatte. Sie lag neben einem Jachthafen, der über rund vierzig moderne Anleger für Haus- und Sportboote verfügte. Das Areal der Werft wirkte ziemlich überfüllt. An Wasser wie an Land lagen alte Lastkähne in diversen Stadien des Verfalls herum. Das Gelände erinnerte Guerin mehr an einen Schrottplatz als an eine Werft. Das Geschäft mit den Flusstransporten lag schließlich schon längst darnieder. Wenigstens sorgte der Hausboottrend für neues Einkommen in der Gegend. Gearbeitet wurde in den Hallen der Werft ausschließlich an eleganten, teuren Booten; die alten Frachtkähne lagen nicht nur sinnbildlich auf Halde. Der ideale Ort, um über ein herumliegendes Stück Ankerkette zu stolpern, deswegen war Guerin hier.
Außerdem hatten sich bei seinem letzten Besuch kaum alle Angestellten im Werk aufgehalten. Und obwohl er und Megane ein Foto des Toten ans Schwarze Brett der Firma genagelt hatten, bedeutete dies nicht, dass es sich jeder Mitarbeiter auch genauer angesehen hatte. Er hatte sich beim Besitzer angemeldet, aber darum gebeten, das Personal nicht