Während ihrer ganzen Jugendzeit zog man ab und zu tote Körper aus dem Fluss, die an den Schleusen hängen geblieben waren. Natürlich versuchte man, den Anblick von Muriel fernzuhalten. Sie beobachtete deshalb immer besonders genau. Im Lauf der Zeit fiel ihr auf, dass niemals ein gewaltsamer Tod angenommen wurde, solange die Leichen keine auffälligen Verletzungen aufwiesen.
***
Richtig begonnen hatte Muriels Nebenerwerb allerdings erst, als einer ihrer Gäste, der um eine zweite Instruktion zur Bedienung der Penichette gebeten hatte, sie reinlegen wollte. Oder genauer, eigentlich flach.
Ein glatzköpfiger Sechziger mit Kugelbauch, der klagte, dass er mit dem elektrischen Bugstrahlruder nicht zurechtkomme. Rasch stellte Muriel fest, dass es gar nicht funktionierte. Um die Sicherung zu kontrollieren, musste sie einen in der Kabine befindlichen Bodendeckel öffnen. Als sie davor kniete, packte er sie an den Handgelenken. Rabiat zwang er sie auf den Bauch und drohte, ihr einen Arm auszurenken, falls sie auch nur einen Mucks von sich geben sollte.
Ungelenk fesselte er ihre Hände auf dem Rücken. Er hat das so geplant, wurde Muriel schlagartig klar. Die Panne diente bloß als Vorwand, um sie anzulocken. Und um sie in eine körperliche Lage zu zwingen, aus der sie sich kaum noch zur Wehr setzen konnte. Wahrscheinlich war überhaupt nichts kaputt, ging ihr durch den Kopf. Er muss sich die Stricke zuvor zurechtgelegt haben. Sie versuchte, nicht zu stöhnen, wenn er an ihr zerrte. Warum sie so nüchtern analysieren konnte, statt in Panik zu verfallen, wusste sie selbst nicht.
Ihre Fußgelenke befestigte er an einer Heizungsleitung in der Kabine. Eine weitere Schlinge legte er ihr lose, aber das Ende griffbereit um den Hals.
»Rühr dich nicht, wenn du weiterleben willst«, zischte er. Dann erhob er sich schnaufend.
Muriel lag mit abgedrehtem Kopf auf dem Boden und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er warf eine Pille ein, die er mit einem kräftigen Schluck aus einer Weinflasche herunterspülte. Danach zündete er sich eine Zigarette an. Muriel sah den Rauch, doch der Dicke selbst verschwand aus ihrem Blickfeld. Seine Schritte entfernten sich, und für einen Moment wurde es dunkler in der Kabine, als er sich durch die schmale Tür zwängte.
Seine Knoten saßen nicht besonders fest. Muriel, daran gewöhnt mit Seilen umzugehen, schaffte es in wenigen Minuten, die Hände freizubekommen. Die Füße waren ebenfalls im Nu frei. Ihr erster Impuls war natürlich, rauszulaufen und schreiend auf sich aufmerksam zu machen. Allerdings herrschte an diesem Tag eine mörderische Hitze. Niemand hielt sich freiwillig im Freien auf. Das Boot lag als Einziges am kleinen Anleger eines Restaurants, das um diese Tageszeit geschlossen blieb. Der Alte hatte den Ort vermutlich mit Bedacht ausgewählt. Muriel konnte sich nicht darauf verlassen, dass sie überhaupt jemand hören würde. Und sie kochte vor Wut. Mit dem alten Knacker werd ich doch fertig, dachte sie. Wenn sie es schaffte, ihn ins Wasser zu kriegen … Das traute sie sich zu.
Mit einer aus seinen Stricken zusammengeknoteten Leine in den Händen schlich sie sich aufs Vorschiff. Sie konnte ihn zwar hinter dem Bootsaufbau nicht sehen, aber der Rauch seiner Zigarette wies ihr den Weg.
Barfuß stieg sie auf das Oberdeck. Spähte vorsichtig nach hinten. Er saß rauchend mit dem Rücken zu ihr auf der Bank der Badeplattform. Rasch fädelte sie eine Schlinge ein, warf sie dem Alten über den kahlen Schädel und hechtete direkt ins Wasser.
Noch bevor er kapiert hatte, was ihm geschah, zerrte sie ihn an der Leine in den Fluss. Ob der Idiot überhaupt schwimmen konnte, wusste sie nicht. Jedenfalls strampelte er wild und schluckte sofort Wasser. Er ertrank, ohne dass Muriel ihn auch nur anzufassen brauchte, abgesehen vom Strick in ihren Händen. Den beließ sie an seinem Hals, bis er sich nicht mehr regte. Zwar hatte er daran gezerrt, in der Panik jedoch nicht bemerkt, dass er die Schlinge umso enger schloss, je stärker er zog.
Schon wenige Minuten später stand Muriel am Steuer und lenkte das Boot auf den Fluss. Mit der freien Hand zog sie sich ihre triefenden Sachen aus. Falls sie jetzt einer beobachtete, würde er wenigstens nicht auf die Leine achten, die vom Bug herabhing und im Wasser verschwand. Muriel hatte den Alten so befestigt, dass er während der Fahrt unter das Boot gezogen wurde und deshalb nicht gesehen werden konnte.
Als sie jedoch nach einer guten Stunde Fahrt in einem Waldstück, das der Fluss hier durchschnitt, die Leine an Bord holte, stellte sie entsetzt fest, dass sie ihn offenbar verloren hatte. Einer der Knoten musste sich gelöst haben.
Dieses Erlebnis bildete den Start ihrer »Karriere«.
Die Leiche des Alten tauchte ihres Wissens nie wieder auf. Schon damals hatte sie seine Wertsachen als eine Art Entschädigung behalten. Er hatte eine ansehnliche Summe in seinem Koffer gehortet. Für Muriel begann eine finanziell unbeschwerte Zeit, die sie später nicht mehr missen mochte. Seither achtete sie gezielt auf einsame, ältere Herren unter der Kundschaft des Bootsverleihs, am liebsten im Ruhestand. Während des Eincheckens und der darauf folgenden Instruktionsfahrt gaben sie ihr bereitwillig Auskunft über ihren Familienstand und weitere persönliche Details. Die meisten reisten im eigenen Wagen an, eine gute Gelegenheit für Muriel, sich von der finanziellen Ausstattung ihrer potenziellen Opfer ein Bild zu machen. Wenn einer die Kriterien erfüllte, legte sie ihr Netz aus, in dem sich die Herren, ohne zu zögern und leidenschaftlich gern verstrickten. Glücklicherweise blieb der größte Teil ihrer Opfer genauso spurlos im Fluss verschwunden wie der fette Alte. Trotzdem »erlitt« Muriel immer eine »Sichtung«, kurz nachdem sie mal wieder einen Touri versenkt hatte. Als bloße Vorsichtsmaßnahme.
2. Kapitel
Kommissar Eric Guerin wartete geduldig am Rand der ecluse Nr. 07 darauf, dass die Pumpen den rund vierzig mal fünf Meter messenden Trog der Schleuse leerten. Bis auf den Grund in rund sechs Metern Tiefe, wo er auf einen leblosen Körper zu stoßen vermutete. Oder auch hoffte, um den gewaltigen Aufwand zu rechtfertigen, nachdem schon die Taucher erfolglos gesucht hatten.
Die blasse Zeugin, eine Madame Muriel Bodet, hatte er inzwischen zurück in ihr Hausboot gehen lassen. Um ihren Zusammenbruch zu verhindern. Der wäre bestimmt bald erfolgt, wenn er sie noch länger am Rand der Schleuse ausharren gelassen hätte … Eine halb verfaulte Leiche wollte sie im einströmenden Wasser auftauchen gesehen haben. Der Schreck schien ihr extrem zuzusetzen. Für Guerin kein Wunder. Er hatte schon einige Kadaver aus Flüssen erlebt, die man kaum noch als menschlich und schon gar nicht als Individuen wahrnehmen konnte. Sondern einfach nur als stinkende Fleischreste.
Ein Mann in elegantem Anzug gesellte sich zu Guerin. Er trug genau die gleichen teuren, in Handarbeit genähten Schuhe wie der Kommissar, bloß in Rotbraun anstatt in Dunkelbraun.
»Sie sind Kommissar Guerin!« Keine Frage. Eine Feststellung.
Guerin nickte.
»Ich bin der hiesige Präfekt«, stellte er sich vor.
Guerin salutierte vorschriftsgemäß. Eigentlich kein Wunder, dass der Präfekt des Département Haute-Saône persönlich erschien. Schließlich lag sein Büro nur wenige Kilometer entfernt, in Vesoul. Außerdem hatte man Guerin aus dieser Präfektur angefordert. Wer, das wusste Guerin nicht. Das lief über die Vorgesetzten. Er hatte bloß mitbekommen, dass im gesamten Arrondissement Vesoul extremer Personalmangel herrschte.
»Schöne Schuhe, Herr Kommissar«, fuhr der Präfekt fort. »Wo kaufen Sie?«
»In Épinal, Herr Präfekt.«
»Bei Henry?«
»Ja, genau.«
Der Präfekt straffte sich. »Ausgezeichnete Wahl, Herr Kommissar. Allerdings bin ich nicht deswegen hier. Ich muss Sie um Verzeihung bitten. Das Ganze beruht auf einem Missverständnis.«
Guerin sah ihn erstaunt an. »Ein Missverständnis?«
»Ja Herr Kommissar. Eine neue Kraft bei uns, welche die hiesigen Verhältnisse nicht kennt, hat Sie angefordert. Ich kann ihm nicht einmal einen Vorwurf machen. Er hat genau nach meinen Anweisungen gehandelt.«
Guerins