„Avery“, drang Skylers Stimme erneut zu mir.
„Ja?“ Ich rutschte sofort näher an die Kluft heran und löste mit meiner Aktion ein paar lose Steinchen.
„Willst du mich umbringen?“, keuchte er.
„Entschuldigung.“
Im Kopf ging ich alle Optionen durch, die mir zur Verfügung standen. Doch was nutzten mir magische Fähigkeiten, wenn ich sie in banalen Lebenslagen wie dieser nicht anzuwenden wusste?
„Avery?“
„Ja, ich bin hier!“
„Leg dich flach hin!“
Diesmal befolgte ich seine Aufforderung vorsichtiger.
„Reich mir eine Hand nach unten soweit wie es geht.“
Tastend griff ich in die Tiefe.
„Weiter! Aber möglichst, ohne mir zu folgen.“
Typisch Skyler. Selbst in dieser Lage verließ ihn seine angeborene Arroganz nicht. Stückchen für Stückchen schob ich mich voran, bis sich unsere Fingerspitzen berührten.
„Noch ein wenig!“
Ich lag bereits kopfüber bis knapp zu den Hüften in der Kluft, konnte seinen stoßweisen Atem hören, bis sich unsere Finger ineinander verkrallten.
„Gut. Jetzt denk an etwas Schönes, an Heilung.“
Etwas Schönes …
Erinnerungen flossen durch meine Gehirnwindungen, durch meinen gesamten Körper, wie pulsierende Energie. Bilder von Skyler, wie ich ihm in den Baumkronen Greenerdoors begegnete, er mich vor einer Kreuzbandnatter rettete und zum ersten Mal Montai nannte, kleines Äffchen. Der erste Kuss in seinem Baumhaus, unsere erste Nacht, in der wir uns fast körperlich vereint hätten, bis Amarotts Blutstein …
„Verflucht noch mal! Möchte wissen, an was du gerade eben gedacht hast!“, fuhr er mich an.
Meine Hand schnellte zurück, als er aus der Tiefe emporstieg. Fast besinnungslos vor Erschöpfung zog ich den Arm zu mir heran und rollte mich von dem Spalt fort. Ich war müde, so unendlich müde, wollte nur noch schlafen.
„Avery“, hauchte mir eine vertraute Stimme ins Ohr und ich schlug lahm die Augen auf.
„Da bist du ja wieder.“
Bei Skylers Lächeln durchströmte mich augenblicklich Wärme, doch fühlten sich meine Glieder an, als hätte jemand mit Gewalt an ihnen gezerrt.
„Du hast mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt.“
Er hockte sich nieder und reichte mir den Wasserschlauch.
„Trink! Und dann müssen wir weiter.“
„Weiter wohin?“, fragte ich matt.
Ich trank in gierigen Zügen. Meine Kehle fühlte sich so rau an, als hätte ich Sand geschluckt. Langsam kam die Erinnerung, und mit ihr die Erkenntnis, dass er die Höhle meinte.
„Fühlst du dich kräftig genug für den Aufstieg?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Wo ist unser Gepäck?“
„Oben.“
„Du hast mich hier allein …?“
„Ich konnte schlecht dich und das Gepäck tragen.“ Kurz trat ein schmerzhafter Ausdruck in seine Augen, dann entspannte sich seine Miene wieder. „Danke.“
„Wofür?“
„Für deine Heilung.“
Ich wollte etwas erwidern, doch er packte bereits meinen Unterarm zum Aufbruch. Unwirsch wand ich mich aus seinem Griff.
„Geh schon vor, ich folge dir“, wie ich es immer tue, fügte ich in Gedanken hinzu.
„Bist du sicher?“
„Habe ich denn eine Wahl?“
Sein Unterkiefer arbeitete, dann kletterte er mir voraus. Obwohl nur von spärlichem Licht umgeben, stieg er sicheren Schrittes hinauf.
Es kam mir vor, als seien Stunden vergangen, bis Skyler über mir verschwand, um kurz darauf helfend nach meinem Arm zu greifen. Kurzatmig ließ ich mich von ihm ins Innere einer Höhle ziehen, deren Ausmaße ich in der Düsternis nicht einzuschätzen wusste. Augenblicklich nahm das Heulen des Windes ab.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er ganz dicht an meinem Ohr. Ich konnte ihn eher spüren, als dass ich ihn sah.
„Gib mir deine Hand. Wir müssen noch ein Stück weit hinein.“
Ich stolperte hinter ihm her über unser Gepäck in einen geräumigeren Bereich der Höhle. Kleine Öllichter standen auf dem Boden und verströmten ein unheimliches Licht, das unsere Schatten bizarr an der Höhlenwand entlangtanzen ließ.
„Wo sind wir hier?“, fragte ich ihn mit vor Erstaunen geweiteten Augen.
„Am Eingang zum Tor von Merdoran.“
„Dann ist es nicht mehr weit bis zu den Javeérs?“ Bange Hoffnung schwang in meiner Stimme mit.
„Kommt darauf an, was du unter weit verstehst.“
„Übernachten wir etwa hier?“, fragte ich phlegmatisch, viel zu müde, um mich mit Haarspalterei aufzuhalten. Kurz hatte ich wieder das Bild der Raubkatze vor Augen, deren Fänge ich nur knapp entkam.
„Ja. Halte dich einfach in der Nähe der Öllampen auf. Ich hole unsere Ausrüstung.“
Hunger schlug mir seine Faust in den Magen. Wie auf Bestellung brachte Skyler ein paar Streifen gepökelten Fleisches, den letzten Kanten Käse sowie trockenen Rest Brot zum Vorschein. Gierig griff ich nach dem Käse.
„Ich weiß, dass du kein Fleisch magst“, kommentierte er meine Wahl. „Aber bald gibt es keine Auswahl mehr.“ Er lächelte schief, was in dem spärlichen Licht eher einer Fratze glich.
Schweigend nahmen wir das karge Mahl ein. Vor Müdigkeit konnte ich kaum die Augen offenhalten. Ich wollte ihn fragen, woher er den Unterschlupf kannte, wer die Öllichter aufgestellt hatte. Doch kaum hatte ich den letzten Bissen verzehrt, ließ ich mich einfach zur Seite kippen. Skylers Arme fingen mich auf, schoben mir sanft eine Decke unter.
„Ruh dich aus, Montai. Ich halte Wache“, hörte ich noch, bevor ich in einen traumlosen Schlaf versank.
Ich erwachte von eisiger Kälte, dabei lag ich unter zweien dieser seltsamen Felldecken. Fetzen eines fast lautlos geführten Gesprächs drangen an mein Ohr.
„… hast es uns zugesagt!“ Obwohl der Sprecher die Worte sehr leise sprach, klangen sie energisch.
„Scht! Sie wird noch aufwachen“, Skylers tiefes Timbre. „Ich weiß, was ich gesagt habe …“
Ich spitzte die Ohren. Was ging hier vor? Mit wem redete er da?
Die letzten Worte konnte ich nicht mehr verstehen, da sich die Stimmen weiter entfernten. Sollte ich mich weiterhin schlafend stellen, um mehr zu erfahren? Ich ließ einige Zeit verstreichen, ehe ich mich erhob, eine der Decken wie einen Mantel um mich behaltend. Ich fand Skyler am Eingang der Höhle mit angezogenen Knien sitzend vor.
„Kannst du nicht schlafen?“, fragte er in die Nacht hinein, ohne sich nach mir umzudrehen.
„Nein. Ich meinte, Stimmen zu hören“, begann ich vorsichtig.
„Du brauchst dringend Schlaf, wenn du schon Stimmen hörst.“ Es sollte leichthin klingen, aber mein Argwohn war geweckt.
„Mit wem hast du eben gesprochen?“, hakte ich nach.
„Mit niemandem. Vielleicht hast du den Wind gehört. Draußen tobt ein Sturm.“
Du lügst, dachte ich.
„Ich denke, dass ich Windgeräusche von menschlichen Stimmen unterscheiden kann.“ Mit verschränkten Armen blickte ich auf ihn herab. „Verkauf mich also nicht für dumm.“
„Was haben dir diese Stimmen denn gesagt?“,