»Erstaunlich, er wirkt fast als wäre er über den Berg.«
»Nicht wahr?« Vynsu rieb sich nachdenklich das breite Kinn, seine dichten Stoppeln kratzten. »Dabei wäre er vor nicht einmal einem Tag beinahe sang und klanglos abgekratzt.«
»Stammt sein Vater nicht von Luzianern ab?« Jori legte nachdenklich den Kopf schief. »Vielleicht hat er ihre … Stärke und schnelle Erholung geerbt.«
»Hm«, brummte Vynsu grübelnd. Dabei fiel sein Blick auf Desiths Handgelenke und auf die langen, wulstigen Narben. Als Desith sich damals die Venen aufgeschnitten hatte, hatte er viel länger gebraucht, um zu gesunden. Doch seine Überlegung behielt er für sich, sein Volk – und seine Männer – konnten unglaublich abergläubig sein, und er wollte keine schlafenden Hunde wecken.
»Ich muss dir etwas beichten.« Jori seufzte schwer, als Vynsu ihm erwartungsvoll das Gesicht zuwandte. »Du musst neue Brühe kochen.«
Genervt ließ Vynsu die massigen Schultern hängen. »Wolltest du nicht aufpassen?«
»Das habe ich, Bruder. Rurik und Vala haben den Kessel nicht angerührt, als ich ihnen sagte, für wen er ist, aber…«
»Bragi«, beendete Vynsu Joris Satz und sah zu, wie sein Freund betreten die Augen niederschlug.
»Ich hab gesagt, er soll die Finger davon lassen, aber du kennst ihn … frech wie Dreck. Meinte, wenn du nicht willst, dass er was isst, musst du schneller aufessen.« Jori versuchte, das Thema einfach abzuwinken.
Vynsu schnaubte mit einem amüsierten Lächeln. »Du musst diesen Dieb dringend zähmen, mein Bruder, er tanzt dir ziemlich auf der Nase herum!« Lachend schlug er Jori auf den Rücken.
Dieser brummte etwas Unverständliches und verbarg seine Verlegenheit, indem er sich über den grimmigen Mund rieb.
Erneut wurde die Zeltplane aufgeschlagen, der Schamane kam herein, behangen mit allerlei Schmuck aus Zähnen und Krallen großer Raubtiere, sein Gewand war nicht mehr als Lederfetzen, die einen Lendenschurz und einen Umhang aus Bärenpelz zusammenhielten.
Der kleine, hagere Mann war schon alt, sein langes Haar und sein Bart waren so grau wie ein verblasstes Eisenschwert. »Herr«, sagte er, legte sich kurz die Faust über die Brust und neigte regelrecht beim Vorübergehen sein Haupt. Er wirkte in Eile und tüchtig, als er mit einer leeren Schale um Desiths Lager herumging.
»Wie steht es um sein Wohl?«, hakte Vynsu nach.
Der Schamane stellte sich ihnen gegenüber. »Es ist…«, er schien mit sich zu hadern, und Vynsu tauschte einen unbehaglichen Blick mit Jori.
»Es ist seltsam, Herr«, brachte er schließlich hervor, nahm einen von Desiths schlaffen Armen und hielt die Finger in den Kerzenschein. »Seht Ihr, die Knöchel waren heute Morgen noch gebrochen, jetzt sind sie so verheilt, als wären sie nie gebrochen gewesen.« Er zuckte mit den Schultern und legte den Arm ab. Dann schüttelte er ratlos seinen ergrauten Schopf. »Die Vergiftungen hätten ihn innerhalb weniger Augenblicke töten müssen, selbst meine Kräuter hätten nichts mehr ausrichten können. Ihr kennt die Schlangen in dieser Hölle, Herr, er hätte es nicht überleben dürfen. Aber es scheint, als ob… als ob das Gift ihm nichts hatte anhaben können.«
»Also… er lebt«, schlussfolgerte Vynsu trocken. Neben ihm kratzte sich Jori am Kopf.
»Er lebt«, nickte der Schamane zustimmend und blickte Vynsu entschuldigend in die Augen, »ich kann nur nicht erklären, wie. Es ist, als ob sein Leib viel schneller heilt, als es ein Mensch vermag. Herr, versteht mich nicht falsch, ich bin froh darüber, der Großkönig hat unmissverständlich betont, dass der Junge überleben muss, aber ich muss gestehen, dass er das nicht mir zu verdanken hat. Und ich kann dieses Wunder nicht erklären, er ist ein einfacher Mensch, er dürfte solche Kräfte nicht besitzen.«
»Hm.« Sie verfielen in Schweigen und betrachteten Desith, der von der Unterhaltung überhaupt nichts mitbekam.
»Also kommt er durch«, mutmaßte Jori und warf fragende Blicke in die Runde.
Der Schamane sah auf. »Das vermag nur der Allmächtige zu beantworten. Zwar hat er die Vergiftungen und Brüche wie durch ein Wunder selbst geheilt, aber die Verbrennungen machen mir Sorgen, sie scheinen nicht von normalem Feuer zu stammen und lassen sich schwer behandeln, meine Salben neigen sich dem Ende zu und meine geringe Magie reicht nicht aus.«
Mit anderen Worten, bei dieser Art Verbrennung war die Magie einer echten Hexe gefragt.
»Er wird bis zum Lager im Westen durchhalten müssen«, sagte Vynsu.
Der Schamane nickte reuevoll. »Er wird Schmerzen haben, aber das ist gerade seine geringste Sorge. Herr, ich … ich bräuchte eine helfende Hand.«
Vynsu zog wieder die Stirn kraus. »Wobei?«
»Der Bursche hat sich nicht nur zahlreiche Verletzungen, sondern auch Krankheiten und … Parasiten eingehandelt.«
Jori brummte: »Ich glaube nicht, dass mir gefällt, was gleich folgt…«
»Parasiten?« Vynsus Nachhaken war ihm bereits über die Lippen, eher er sich auf die Zunge hatte beißen können.
»Parasiten«, bestätigte der Schamane. »Sie haben bereits Eier gelegt, die kann ich mit ein paar Kräuteraufgüssen bekämpfen, aber die geschlüpften Larven… Nun ja, Herr, wären wir in einem Lager, würde ich Knechte damit beauftragen, aber wir reisen nur mit … Nun, jemand muss mir zur Hand gehen.«
Vynsu schüttelte leicht den Kopf. »Wobei zur Hand gehen?«
»Wir müssen ihn auf Würmer untersuchen und ihn davon befreien.«
Es dauerte einen Herzschlag lang, bis Vynsu begriff, was der Schamane von ihm verlangte. Mit offenem Mund sah er Jori an.
»Oh… Ihr meint…?« Jori wurde feuerrot. »Wir müssen … sein … seinen …«
»Fabelhaft«, schnaubte Vynsu und befreite Jori von seinem Stottern, als er ihm ins Wort fiel. »Wir sollen ihm Würmer aus dem Hintern puhlen.« Er beugte sich über Desiths schlafendes Gesicht und sagte zu ihm: »Du schuldest mir etwas dafür, Kaisersöhnchen. `Ne ganze Menge, würd ich sagen.« Dann blickte er auf und nickte dem Schamanen zu. »Drehen wir ihn um.«
*~*~*
Als er das nächste Mal aufwachte, fühlte sich sein Verstand um einiges freier an als beim letzten Mal. Es kam ihm zumindest nicht mehr so vor, als ob ein Drache auf ihm säße, sondern als läge nur noch ein Flusspferd auf seiner Brust. Seine Lider ließen sich leichter heben und blieben nach einigem Blinzeln sogar offen. Die Trockenheit seiner Augen schmerzte, ließ sich aber durch ein kräftiges Reiben mit seinen Handballen vertreiben.
Desith erkannte die dunklen Lederwände, die ihn umgaben. Er lag in einem Zelt, ohne jeden Zweifel. Sein Untergrund war weich und hüllte ihn in Geborgenheit, es war stickig, heiß und feucht, ein paar Kerzen schimmerten vor sich hin und warfen große Schatten an die Zeltwände. Er schwitzte, ein Feuer brannte in ihm, seine Beine und Arme zitterten unkontrolliert, er fühlte nur Schmerz, ein Brennen im Rachen, ein Stechen in jedem Muskel, Schwindel herrschte in seinem Kopf.
Als er aufwachte, wollte er sofort wieder einschlafen, das Leben erschien ihm unter diesen Umständen nicht mehr erstrebenswert, der Tod war die süße Aussicht auf Schmerzlosigkeit.
Aber sein Körper schien sich zu weigern, einfach aufzugeben, er kämpfte – und das schmerzte.
Stöhnend rollte Desith sich herum. Ein Geräusch hatte ihn geweckt, ein fremder und doch vertrauter Laut…
Er rollte sich unter sengenden Qualen auf die andere Seite und suchte den Geräuschverursacher. Dieser saß neben seinem Bett auf einem knorrigen, alten Stuhl, der unter seinem Gewicht einzustürzen drohte. Vynsu. Die Arme waren vor der breiten Brust verschränkt, er hing schlaff im