Es dauert etwas, bis Annas Erstarrung verschwindet und sie wieder etwas im Lichtkegel der Taschenlampe zu erkennen vermag. Hastig umrundet sie den Busch und hockt sich nieder. Täuscht sie sich, oder ist es derselbe Vogel wie gestern? Er hält den Kopf schräg und klappt die Augendeckel mehrmals auf und zu. Sollte er ihr zublinzeln? Ein leises Kollern ist zu hören, das keinesfalls von seinem Schreck kündet. »So schnell kann er sich doch nicht an mich gewöhnt haben, oder?«, rätselt Anna. Sie entriegelt mit kalten Fingern den Schließmechanismus. »Komm raus, du dummer Vogel. Wie kann man nur zweimal in die gleiche Falle gehen?« Plötzlich zuckt erneut ein Blitz über den Himmel und Anna hält den Atem an. Der Kolkrabe beginnt immer stärker bläulich zu schimmern, dann steht er außerhalb der Falle und krächzt laut, sobald der Donner verklungen ist.
»Das ist manchmal notwendig, besonders dann, wenn du sonst nicht auf Hinweise reagierst!« Diese Antwort des Kolkraben versteht Anna natürlich nicht. Erneut wird es strahlend hell um sie, doch diesmal ist es kein greller Blitz sondern ein gleißendes Blau.
»Das glaub ich jetzt nicht«, denkt Anna. Es sticht kurz in ihrem Kopf, dann wird es schwarz um sie herum. Das Erste, was sie wieder wahrnimmt, sind aufgeregte Stimmen.
»Konntest du das Kind nicht anders zu uns holen?«
»Es wirkt viel jünger, als ich gehofft habe!«
»Und du bist sicher, die Richtige ausgewählt zu haben?«
»Bin ich«, knarzt eine raue Stimme. »Sonst reagierte kein Schüler auf mein ängstliches Kreischen, und sie kam sogar mitten in der Nacht während des grässlichen Unwetters zu mir!«
»Hm. Das spricht wirklich für das Mädchen!«
»Aber sie ist noch so klein. Wie soll sie dann gegen die gefährlichen Dämonen bestehen können?« Nach mehreren vergeblichen Versuchen bleiben Annas Augen geschlossen. Sie kommen ihr bleischwer vor. Sie überlegt angestrengt, ob ihr die Stimmen bekannt sind. Die knarzende könnte von dem schwarzen Vogel stammen, schlussfolgert sie aus dem Gehörten. Aber ist das denn möglich? Zu den anderen hat sie keine Idee. Erneut versucht sie, mit großer Anstrengung ihre Augenlider zu öffnen. Das gelingt wieder nicht. Anna möchte sich herumwälzen, denn seltsamerweise scheint sie zu liegen. Was ist denn nur los? Wurde sie vom Blitz getroffen und ist gestorben? Aber warum hört sie dann Stimmen? Sie könnte auch schwerverletzt auf dem Boden unter dem Haselbusch liegen. Vom elektrischen Strom gelähmt und zumindest teilweise scheußlich verbrannt. Aber Schmerzen spürt sie keine und frieren muss sie auch nicht. Obwohl es Sommer ist, müsste sie, durchnässt vom Gewitterregen, wenigstens frösteln. Was bedeutet das alles? Sie kann mehrere flüsternde Stimmen hören, die sich unterhalten und den Raum verlassen, in dem sie auf einem weichen Lager oder einem Bettgestell liegt. Schließlich sind nur noch zwei Personen anwesend, die leise miteinander reden.
»Ainoa, du wartest an … wie heißt das Kind eigentlich? Halt, stopp, sag es lieber nicht!«
»Das ist sicherer, meine Königin!«
»Du bist wohl leichtsinnig geworden, du voreilige Elfe. Das darf noch niemand wissen, deshalb redest du mich besser nicht so an!«
»Aber das Mädchen ist bewusstlos. Eine magische Reise in unsere Anderswelt ist für einen Menschen sehr anstrengend, besonders für ein Kind.«
»Das war schon immer so, zumindest beim ersten Mal. – Was ich sagen wollte, du wartest an seiner Seite, bis es aufwacht. Dann wirst du ihm erklären, wo es ist und was wir wollen.«
»Immer ich!«, mault die knarzige Stimme.
»Keine Widerrede! Du weißt genau, dass ich diese Aufgabe den anderen nicht übertragen kann. Wenn die Kleine aufwacht, könnte sie beim Anblick von Dragon-tan einen tödlichen Schock bekommen. Die Menschen würden ihren Tod natürlich nicht mit uns in Verbindung bringen, bis auf die wenigen, die von unserer Existenz wissen. Wenn das Kind dann in ihrer Welt gefunden wird, würde das einem Blitz zugeordnet werden, dafür haben deine magischen Kräfte gesorgt. Aber wir haben mittlerweile schon so viele Tage auf die Hilfe eines geeigneten Menschen gewartet, da ist es besser, das Kind nicht unnötig dieser Gefahr auszusetzen. Die Aufgabe, die es erledigen soll, ist gefährlich genug!«
»Na gut, Katherin! Was macht ihr in der Zwischenzeit?« Auch wenn Ainoa ihre Zustimmung gibt, klingt sie nicht begeistert.
»Was schon? Wir versuchen, einen möglichen Plan zur Rettung Saphiras aufzustellen. Da der von dir auserwählte Mensch noch so jung ist, müssen wir den bisherigen anpassen. Mit magischen Schwertern oder unseren Elfenbögen kann die Kleine sicher nicht umgehen. Sie ist ja fast noch ein Baby.«
»Ich bin kein Baby!«, versucht Anna, empört einzuwerfen. Doch genau wie die Augen, gehorchen die Stimmbänder ihr nicht. »Was mag das für eine Aufgabe sein und welche Person kann so schreckenerregend aussehen, dass ich offenbar auf ihren Anblick vorbereitet werden muss?« Katherin entfernt sich und ermahnt die Elfe noch einmal:
»Und bereite das Kind auf den Anblick von Dragon-tan vor!« Dann hat sie den Raum verlassen. Ainoa zieht sich einen Stuhl neben die Liege, was Anna aus dem dabei verursachten Geräusch folgert. Die junge Elfe murmelt etwas vor sich hin. Vermutlich redet sie sich den Frust über diese Aufgabe von der Seele.
Plötzlich durchströmt ein warmer Impuls das Mädchen. Es vermag die Augen zu öffnen und bemerkt einen goldenen Schimmer, der von über ihm gehaltenen Händen ausgeht. Das leuchtende Licht fließt auf Anna zu und scheint die Ursache für die sich ausbreitende Wärme zu sein. Sie seufzt erleichtert und kann sich wieder bewegen. Das wird offenbar bemerkt, denn sie vernimmt ein gemurmeltes:
»Inhibeo!« Die bisher ausgestreckten Hände sinken herab und geben den Blick auf ein strenges, aber freundliches Gesicht frei. Es gehört einer jungen Frau, die lange und glatte, schwarze Haare hat und sie mit tiefblauen Augen anschaut.
»Hallo Kleine.« Die Stimme klingt seltsam rau und ähnelt dem Knarzen des Kolkraben, den sie befreien wollte.
»Wo bin ich? Wurde ich von einem blauen Blitz getroffen und liege jetzt auf der Krankenstation?« Dass die junge Frau eine Elfe sein soll, erscheint ihr widersinnig, obwohl sie von der anderen Stimme so bezeichnet worden war. Sie sieht aus wie ein normaler Mensch, dabei sind Elfen doch eher mystische Wesen, die nur in Märchen und Geschichten existieren!
»Keine Angst! Das helle, bläuliche Licht kommt davon, dass ich dich mit in die Anderswelt genommen habe. Halt, warte einen Moment. Du solltest dich nicht so ruckartig erheben!« Anna meint, den Ohren nicht trauen zu können. Vermutlich läuft gerade irgend so ein alberner Streich ihrer Klassenkameradinnen ab. Sie müssen mitbekommen haben, dass sie sich manchmal in eine Traumwelt flüchtet, wenn sie für sich allein ist und auf einer Bank im Park vor sich hin träumt. Möglicherweise hat sie dabei gesprochen, was von anderen gehört wurde. Ja, das muss es sein! Sie sinkt auf das Bett zurück, da ihr unversehens schwarz vor Augen wird. Erst nach einiger Zeit vernimmt sie wieder die knarzige Stimme, die für eine junge Frau untypisch ist.
»... du dich vorsehen. Hörst du eigentlich, was ich sage?«
Anna öffnet ihre Augen erneut und schüttelt langsam den Kopf.
»Nein, ich habe nicht alles gehört, was du sagtest. Du behauptest, mich in eine Anderswelt geholt zu haben. Was soll das sein und wer bist du?« Das Mädchen spürt zwar das Verlangen, sich aufzurichten, unterlässt es aber vorläufig noch.
»Ich bin eine Elfe und werde Ainoa genannt. In eurer Welt erscheine ich meist als Kolkrabe, weshalb meine Stimme auch rauer, als die anderer Elfen klingt.« Sie grinst Anna verschwörerisch an. »Hast du noch nie etwas von der Anderswelt gehört? Sie ist durchaus nicht unbekannt in eurer Welt, aber nur wenige Menschen wissen von ihr oder waren hier. – Hm, wie soll ich dir das nur erklären? Ich versuche es mal, da Katherin das von mir fordert.«
»Ist