»Nenn mich Anna, das Q ist nicht so wichtig! – Ich habe gesehen, dass du nicht schlechter als Alexander spielst. Meiner Meinung nach zögerst du manchmal zu lange. Das wirkt so, als ob du davor zurückschrecken würdest, den Champion zu stürzen.«
Sie haben mittlerweile den Eingang zur Bibliothek erreicht und öffnen die schwere Eichentür. Galant überlässt der Junge dem Mädchen den Vortritt.
»Das trifft es nicht. Ich habe nur keine so große Spielpraxis und bin deshalb oft unsicher.«
Robin und Anna verschaffen sich einen schnellen Überblick in dem Raum. An vielen Tischen sitzen Schüler, die unterschiedlich hohe Bücherstapel angehäuft haben. Sie lesen und notieren sich hin und wieder etwas in mitgebrachte Kladden. Sie heben nicht einmal die Köpfe, als die schwere Eichentür mit einem leisen Geräusch geschlossen wird.
Im hinteren Bereich sind viele Regalreihen zu sehen, die bis zur Decke reichen. In ihnen steht wohlgeordnet der große Bücherbestand der Schule. Dieses Gebiet wird durch ein davor befindliches Geländer vom Lesesaal abgegrenzt. Dort entdecken die beiden vier freie Tische. Robin gibt Anna das Schachspiel. Er fordert sie auf, sich einen Platz auszusuchen und dort schon einmal die Figuren aufzustellen. Er steuert währenddessen auf den Tresen in der Mitte des Geländers zu, von wo ihnen die Bibliothekarin entgegenschaut. Er informiert die streng blickende Frau über ihre Absicht und bekommt sofort die Genehmigung.
Eine Schachpartie
Der große Gong erklingt zum zweiten Mal. Alle Schüler und Professoren werden damit dringend zur Abendmahlzeit gerufen, doch Anna und Robin überhören ihn. Alle anderen Besucher des Lesesaals haben diesen bereits beim ersten Ton verlassen. Die Bibliothekarin kommt hinter der Abgrenzung hervor und geht zum letzten noch benutzten Tisch. Helle Augen schauen durch große Brillengläser auf das Schachbrett. Sofort heben sich ihre Augenbrauen in die Höhe. Sie hüstelt kurz, aber auch das holt die beiden Spieler nicht in die Gegenwart.
»Der Gong hat bereits zweimal gerufen. Wer beim dritten Mal nicht im Speisesaal sitzt, bekommt heute nichts mehr!« Nur widerwillig blicken die Schüler auf. Sollen sie für eine derartige Nebensächlichkeit wie Essen ihr spannendes Spiel unterbrechen? Derzeit ist es ausgeglichen! »Wie lauten eure Namen, und in welchem Jahrgang seid ihr?«, fordert die Frau mit gewohnter Autorität in der Stimme. Bekommen sie jetzt gleich einen Verweis? Robin will es nicht glauben und Anna versteht nicht, weshalb die hellgrauen Augen sie durch die Brille derart seltsam anblicken.
»Aber, Frau Professor«, beginnt der Junge, »sie kennen mich doch. Wir sind wirklich leise gewesen und haben niemanden gestört.«
»Name und Klasse. Ich frage nicht noch einmal!« Die Aufforderung klingt verdächtig danach, dass gleich eine Strafe folgen wird, wenn sie nicht gehorchen. Der Gesichtsausdruck ist streng und wird von dem Knoten am Hinterkopf, mit dem das schiefergraue Haar zusammengehalten wird, zusätzlich unterstrichen.
»Robin Jury, dritter Jahrgang.« Das Gesicht blickt abwartend zum Mädchen. Die hagere Gestalt der Professorin wird kerzengerade gehalten und bewegt sich bis auf den Kopf nicht.
»Nun du!«, fordert sie. Der Gong erklingt zum dritten Mal und übertönt das Schluckgeräusch, mit dem die Schülerin einen Kloß hinunterwürgt. Was wird jetzt folgen?
»Anna Q, erster Jahrgang«, flüstert sie fast. Doch die Bibliothekarin hat sie gut verstanden.
»Auch wenn Jugendliche im Wachstum nicht auf ein Abendessen verzichten sollten, gibt es offenbar Wichtigeres für euch!« Diese Feststellung wird mit nachdenklicher Stimme gesprochen. Ist das jetzt alles gewesen? Die Schüler blicken sich verwundert an. Warum klang die Frage nach Namen und Jahrgang dann so barsch? Professor Morwenna Mulham wirkt kurzzeitig abwesend. Überlegt sie, welche Strafe angebracht ist, obwohl sich Robin keines Vergehens bewusst ist? Annas Augen ruhen fragend auf dem Jungen. Sie ist erst seit wenigen Wochen hier und nicht sicher, mit dem Fernbleiben vom Abendessen möglicherweise eine ihr unbekannte Schulregel gebrochen zu haben.
»Ihr solltet weiterspielen. Ich schließe nur schnell die Tür ab, da die Bibliothek jetzt offiziell geschlossen ist.« Sie kehrt um, geht zum Eingang und dreht den großen Schlüssel. Danach kommt sie zurück und zieht sich einen Stuhl heran. »Wenn ihr erlaubt, werde ich mir euer Spiel ansehen!« Die Bibliothekarin macht es sich bequem. Nach kurzem Zögern konzentrieren sich die Schüler erneut und versuchen, zu ihrer ursprünglichen Strategie zurückzufinden. Nicht lange, und sie haben ihre Beobachterin völlig vergessen. Morwenna verfolgt aufmerksam die Spielzüge. »Erster und dritter Jahrgang! Das ist gut, sehr gut! – Ob sie aber auch geeignet sind? – Hm. Das war jetzt raffiniert, dabei wirkt diese Anna so, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte. – Der Gegenzug war gut gekontert. Ich bin fast sicher, hier sitzen fähige Talente vor mir.« Ihre Gedanken äußert sie nicht.
Nach langem Überlegen setzt Anna einen Läufer, der einen gegnerischen Bauern schlägt. Robin zieht einen Springer, der diesen Stein bedroht. Schnell wird der aus dem Gefahrenbereich gebracht, da schlägt das gegnerische Pferd ihre Dame. Das Mädchen zieht eine Augenbraue hoch und ärgert sich, weil es die Falle nicht vorhergesehen hat. Es dauert noch mehrere Spielzüge, dann endet die Partie schließlich unentschieden. Die Professorin kommentiert das lediglich mit einem: »Gut!« Sie schiebt ihren Stuhl unter den Tisch zurück, von wo sie ihn vor zwei Stunden herangezogen hat. Anna bedankt sich mit geröteten Wangen für die Partie bei ihrem Gegner, dann legen beide die Figuren in das klappbare Schachspiel. Anstatt es zu schließen, verharrt der Junge. Anna bemerkt, dass er in Gedanken versunken ist.
»Robin, was ist los?« Das Mädchen erhebt sich und wartet auf Antwort. Sie widersteht der plötzlichen Regung, ihm die Schulter zu klopfen. Das würde er vermutlich als herablassenden Aufmunterungsversuch missverstehen.
»Du spielst wirklich gut!«, beginnt er langsam. »Ich habe das Match zuerst zu leicht genommen. Ich bin unbewusst davon ausgegangen, dass ich dich mit Leichtigkeit schlagen würde. Vermutlich hat mich Alexanders Ausspruch dazu verleitet. Entschuldige bitte meine Überheblichkeit. Ich hatte echt Mühe, mich in ein Remis zu retten.« Robins dunkle Augen blicken sie ernst an. »Ich würde gern eine neue Partie gegen dich spielen. – Wer ist dein Lehrer gewesen?«
»Mein Vater. Du musst dich nicht entschuldigen. Ich bin es gewohnt, unterschätzt zu werden. Das ist oft ein großer Vorteil für mich. Ich freute mich schon, dich besiegt zu haben, als du dann doch wieder ins Spiel zurückkamst. – Ich trete gern erneut gegen dich an. Können wir das hier machen? Ich möchte dabei nicht von vielen Mitschülern begafft werden. Das irritiert mich etwas.« Robin schaut sie ungläubig an.
»Trotzdem wolltest du im Speisesaal gegen Alexander antreten? Da hätten seine Bewunderer doch sicher nicht das Feld geräumt!«
»Ich hatte gehofft, dass sie wie Alexander davon ausgehen, dass ich schnell unterliegen würde, weshalb sie schon vorausgehen könnten. Notfalls hätte ich ein paar Figuren geopfert, um das zu untermauern. Spätestens dann wären sie abgezogen!«
»Du bist unglaublich!«, stellt der Junge bewundernd fest. So viel Hinterlist hätte er ihr nicht zugetraut. Sie wirkt so unschuldig und zurückhaltend, dass er Derartiges nicht von ihr denken würde, wenn sie es nicht gerade gesagt hätte.
»Trotzdem rechnetest du dir noch eine Chance gegen ihn aus?«
»Darauf habe ich zumindest gehofft. Damit er gewinnen könnte, müsste er sich schon gewaltig anstrengen. Und dann wäre er mir eine Revanche schuldig, die wir zu meinen Bedingungen austragen würden, also ohne Zuschauer. Ich kann mir gut vorstellen, dass er das auch fordert, um nicht vor großem Publikum Gefahr zu laufen, von »einem Baby« besiegt zu werden.« Die Röte ihrer Wangen ist mittlerweile verblasst, trotzdem, oder gerade deswegen, wirkt sie vollkommen harmlos. Robin zieht in Gedanken seinen Hut vor ihr.
»Was Alexander betrifft, bin ich nicht sicher, ob du ihn richtig einschätzt. Wir sind hier in einem Internat für hochbegabte Schüler. Dein Schachspiel beweist, dass du hierhin gehörst!