Ftonim runzelte die Stirn ob seiner eigenen verworrenen Gedankengänge und vergaß sie gleich wieder, als er eine wohlvertraute Gestalt die zahllosen Stufen hinunterhetzen sah, die vom Anwesen des Holzsteinschnitzers die Klippe hinunter an den Strand führten. Also waren die Neolys schon wieder zurück. Es war vorbei.
Regungslos beobachtete Ftonim den Klippenläufer und fühlte sich mit einem Mal so leer, dass es schmerzte. Vairrynn bemerkte Ftonim nicht, selbst als er am Fuß der Klippe angekommen war, hetzte nur weiter über den Strand, als wären alle Dämonen des Nichtseins hinter ihm her, bis er die Brandung erreichte und auf Knie und Hände fiel. Selbst von dort, wo er stand, konnte Ftonim sehen, dass Vairrynns Körper von Krämpfen geschüttelt wurde, während das Meer um seine Hände und Knie schäumte und die Gischt ihn von oben bis unten durchnässte. Der junge Sar rannte genau in dem Moment los, da sein Freund sich, Gesicht zuerst, fallen ließ. Der nächste Brecher schlug rollend über Vairrynns Kopf zusammen, und Ftonim lief schneller. Das rückläufige Wasser ging ihm bis an die Hüfte, als er meinen Himmelsreiter aus dem Wasser zog, der nicht einmal sonderlich nach Atem rang, während Ftonim ihn ein Stück den Strand hinaufschleppte. Er ließ Vairrynn in den Sand fallen, nur um ihn dann sofort wieder in seine Arme zu ziehen.
»Großer Wy, was machst du denn, Errodd?« Panik und Unglauben verflochten sich in seiner Stimme. Die Hände meines Himmelsreiters krallten sich in Ftonims Oberschenkel, während sich sein Körper aufbäumte. Ftonim biss die Zähne zusammen und hielt Vairrynn so fest, wie er nur konnte. Er hatte mehr Angst als jemals zuvor in seinem Leben. Hilflos strich er seinem Freund das patschnasse Haar aus den Augen und erstarrte. Unnatürlich geweiteten Pupillen und dieser süßlicher Geruch, der in der Nase stach …
Lauthals fluchend zog Ftonim Vairrynn auf die Füße und in Richtung des Wassers, aus dem er ihn gerade erst gerettet hatte. Es war alles andere als einfach, Vairrynn – größer und schwerer als Ftonim und völlig unkoordiniert – wieder ins Wasser zu ziehen, aber Ftonim war nichts, wenn nicht entschlossen. Er schaffte es, dass sie beide in den eisigen Wellen landeten, und dann tauchte er Vairrynns Kopf ein ums andere Mal unter, bis mein Himmelsreiter schließlich zu husten und zu spucken anfing und sich an Ftonim festklammerte wie ein Frn-Baby an seiner Mutter. Der junge Sar selbst fluchte die ganze Zeit über wie ein Weltraumtrödler. Er hatte keine Ahnung, wie und warum – irgendwie hatte er Schwierigkeiten, zu glauben, dass Vairrynn seiner Mutter beim Sterben zusehen würde und hinterher nichts anderes zu tun hatte, als eine Nase voll frischem Kness-Rauch zu nehmen – aber sein Errodd war vollkommen zugedröhnt. Und deswegen hielt Ftonim jetzt ein zitterndes und bebendes und, nicht zu vergessen, patschnasses Bündel im Arm, das entweder versuchte, die Tränen zurückzuwürgen, die ihm nichtsdestotrotz übers Gesicht liefen, oder ernsthaft in Erwägung zog, seinen Mageninhalt loszuwerden.
»Untersteh dich, Vairrynn Sxarram Neoly!«, keuchte Ftonim, als er auf dem ansatzweise trockenen Sand zusammenbrach, Vairrynn halb über ihm liegend. Er schüttelte seinen Freund ein wenig wie die Katze ihr Junges, erstarrte jedoch, als Vairrynn sein viel zu heißes Gesicht in seiner Brust vergrub.
»Mach, dass es aufhört, Ftom«, murmelte er, und es schnürte Ftonim die Kehle zu. »Sag ihnen, sie sollen aufhören!«
Ftonim schloss die Arme wieder um Vairrynns bebenden Körper und begann, sich und meinen Himmelsreiter hin und her zu wiegen. »Schhh, Errodd, ist ja gut, ist ja gut, schhh.«
Vairrynn schüttelte wild den Kopf in seinen Armen. »Sie sind in meinem Kopf, Ftom, alle, alle, alle! Jeder einzelne … Oh Wy, Ftom, es sind so viele. Mach, dass es aufhört! Geht raus, geht raus, geht raus, geht raus …«
»Schhhh, schhhh, sie sind weg, Errodd. Sie sind jetzt alle weg.«
Doch Vairrynn schüttelte weiter den Kopf, und Ftonim konnte nichts anderes tun als seinen Freund festhalten, während dessen Körper von etwas gebeutelt wurde, von dem Ftonim hoffte, dass es Kness-induzierte Halluzinationen waren. Im Grunde jedoch wusste er es besser. Es drückte Ftonim das Herz ab in der Brust, während unzusammenhängende Worte aus dem Mund meines Himmelsreiters stürzten über die Menge in seinem Kopf, stampfend und dröhnend, und über Wut, Wut, Wut, Wut, Wut, und all der Schmerz, zornig und rot, und qualvolle Freude, unerträglich, und Abgründe, so tief, und Schatten, Schatten, nichts als Schatten, und dann war da Nichts und nein, bitte, bitte, zu viel, zu viel, ich hab nicht genug Platz in mir, ich bin nicht viele, zu weit gespannt, viel zu weit, bitte nicht, nicht mehr, mehr nicht, mehr nicht, mehr nicht, mehr nicht, mehr nicht … An diesem Punkt löste Ftonim mit all der sanften Gewalt, die er aufbringen konnte, Vairrynns Arme von seinem Nacken, umschloss sein Gesicht mit den Händen und blickte ihm fest in die Augen. Vairrynns Pupillen waren immer noch viel zu weit.
»Sie sind weg, Errodd! Sieh mich an, komm schon! Mich! Ich bin hier, niemand sonst. Sieh mich an!«
Ein paar qualvolle Atemzüge lang blieb Vairrynns Blick noch völlig unfokussiert. Dann jedoch, als sei plötzlich ein Schloss eingeschnappt, verschränkten sich die hellen grauen Augen mit denen Ftonims. Vairrynns Finger schlossen sich um die Unterarme seines Freundes, und gleichzeitig war Ftonim, als würde jemand seine Seele in die Hände nehmen. Er musste jede Unze an Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht zurückzuzucken. Etwas, nein, jemand, tastete federleicht über seine Angst. Wie aus der Ferne hörte er ein vielstimmiges Schreien und Lachen und Weinen, und er kämpfte seine Panik zurück. Wieder spürte er das federleichte Tasten, und diesmal ging es tiefer. Es war wie eine Frage, und Ftonim nickte, mit allem, was er war. Behutsam nahm das Tasten einen winzigen Bruchteil von dem an sich, was es in ihm fand. Es war der erste Kuss mit der Bäckerstochter Gyllta, die so weich und leicht war wie das Brot, das sie buk, und vielleicht eines jener unzähligen tiefen Gespräche mit seinem Vater. Ftonim war es egal. In diesem Moment hätte er noch mehr gegeben.
Mit einem tiefen Seufzen sackte Vairrynn neben ihm auf dem kühlen Sand zusammen, und Ftonim kehrte blinzelnd in die äußere Welt von Wind und Wellen zurück. Sein Selbst so unsicher wie ein neugeborenes Fohlen nach allem, was gerade passiert war, berührte Ftonim vorsichtig das in sich zusammengesunkene Häuflein, das sein bester Freund war. Vairrynn rollte sich schwach zur Seite und blinzelte zu Ftonim hinauf, sein Blick bewusst, wenn auch noch etwas Kness-vernebelt.
»Danke«, sagte er einfach, doch sein Griff um Ftonims Hand war so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Ftonim wiederum blickte ihn an, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen.
»Gern geschehen«, sagte er nach einem Moment mit einem leichten Lächeln, das er Vairrynn zuliebe auf seine Lippen zwang. In Wahrheit jedoch war ihm alles andere als zum Lächeln zumute: Ftonim Sar hatte ein riesengroßes Problem. Und jetzt, da er die Hand seines besten Freundes hielt, der bis auf die Knochen durchnässt im weißen naharmbranischen Sand lag, wusste er das auch.
Die Oase nistete zwischen den riesigen Dünen, ein kleiner Fleck von Leben in einer Unendlichkeit aus rollendem, weißgoldenem Nichts. Die Luft war trocken und so rein, wie sie es nur auf Yallchá sein konnte. Sie mochte der Grund dafür sein, dass es den Yallchanern so schwerfiel, auf anderen Planeten frei zu atmen. Hinter einem Haus am Rand der Oase, im Schatten eines breitblättrigen Gewächses, saßen zwei junge Frauen, eine an einem Webstuhl, die andere vor einer Leinwand, auf der ihr Pinsel weiße, schwarze und graue Wirbel zog, deren Augen in der Mitte des Gemäldes zusammenliefen.
»Herzerwärmend, Ahn«, meinte die Rothaarige am Webstuhl mit einem Blick auf das halbfertige Werk ihrer Freundin. Die Schwarzhaarige legte daraufhin den Kopf schief in einer seltsam vogelartigen Bewegung und antwortete mit einem unbestimmten »Hmmm«. Lys Pánn schüttelte lächelnd den Kopf und wandte sich wieder ihrem eigenen glanzvogelbunten Teppich zu. Die Zeiten, da die Gemälde