Asnuor lachte überheblich, aber diesmal war es eine Maske, und sie wussten es beide. »Du neigst zum Melodramatischen, mein Schatz. Was war es, das du Mnuran vorgebetet hast? Ich werde sein Herz herausreißen und nichts zurücklassen als ein blutiges Loch? Ich bitte dich, Lys. Dem Allerhöchsten sei Dank, dass du nie auf den Gedanken gekommen bist, zur Feder zu greifen!«
»Mehr hast du nicht mehr zu bieten? Sieh dich doch nur an! Noch vor einer Kma warst du so stolz und selbstzufrieden wie ein Wchlach mit einem gestohlenen Stück Fleisch, und jetzt? Du hältst dich für so unendlich klug, Ktorram Asnuor, und bildest dir ein, die Leute hin und her schieben zu können wie die Figuren auf einem Schachbrett. Aber du versuchst, Dinge zu kontrollieren, die außerhalb des Einflussbereichs eines bloßen Nchrynns liegen. Und nichts weiter bist du. Sannáh hat das gewusst, Nohaín wusste es, und du weißt es auch.«
Etwas sprang auf aus den tiefsten Tiefen seines Selbst und knurrte Lys an mit hochgezogenen Lefzen. »Ich werde gewinnen, Lys Neoly! Ich habe bereits gewonnen.«
»Nein. Das hast du nicht.«
»Du wirst sterben«, zischte er.
»Du auch«, lautete die gleichmütige Antwort. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, ehe er herumwirbelte und aus der Zelle stürmte. Mein starrer Blick fuhr ihm eiskalt den Rücken hinauf; selbst ein Mann wie Ktorram Asnuor spürt nicht gerne den Tod im Nacken. Vor allem ein Mann wie Ktorram Asnuor. Ich gönnte mir ein weiches Lächeln und nahm Lys’ Hände in die meinen. Sie schauderte, als würde sie mich tatsächlich spüren. Vielleicht tat sie es ja. Sie war mir nun schon so nahe, und manchmal schauen mir die Sterblichen dann ins Gesicht. Nicht immer weiß ich, was sie sehen. Aber sie wissen, wer ich bin und dass ich auf sie warte.
»Fürchte dich nicht, Tochter«, sagte ich, und tatsächlich verließ ihre Angst die dumpfige Gefängniszelle zusammen mit dem Obersten Priester. Alles, was blieb, war die seine.
Inferno
Ich war noch nie zuvor in Murraptaam gewesen. Meine Eltern hatten es mir schlichtweg verboten. Zu laut war sie angeblich, die Metropole am Murrap, zu überfüllt, zu schmutzig und natürlich zu gefährlich für eine heranwachsende Erste Tochter. Und so hatte Mynrichwy Neoly bis zu dem Tag, an dem ihre Mutter sterben sollte, nie einen Fuß in die Hauptstadt des Reiches gesetzt. Nun stand ich zum ersten Mal in meinem Leben auf dem Großen Platz und erinnerte mich an all die Dinge, die meine Eltern mir stets vorgebetet hatten, wenn ich leise angefragt hatte, ob ich nicht doch endlich alt genug für Murraptaam sei.
Laut war es hier im Herzen des Reiches ohne Zweifel: Ein stetes Summen und Brummen lag in der sturmschwangeren Luft, ein Dröhnen, das in meinen Ohren pulsierte. Es stieg von der Menge auf, die den Großen Platz ausfüllte wie eine bunt wogende Masse und mir gesichtslos erschien, obwohl sie es nicht war. Laut, überfüllt und schmutzig. Mit reglosem Blick starrte ich hinüber zu dem riesigen Haufen aus dreckig-grauem Kness, der nahe bei unserer Tribüne aufgeschichtet war und der heute das Freudenfeuer nähren sollte. Die Galle stieg mir in den Mund, und ich zitterte am ganzen Körper. Nur die starken Hände meiner Muttersmutter, die meine Schultern umschlossen, hielten mich zusammen. Für den Bruchteil eines Moments hasste ich die alte Frau für ihre Stärke. Sie hatte kein Recht darauf. Nicht heute.
Laut, überfüllt, schmutzig, gefährlich. Ich zweifelte nicht länger daran angesichts der Feindseligkeit der wimmelnden Masse zu unseren Füßen, die wie beißender Rauch in der Luft lag. Es würgte mich, jetzt schon, und dabei war noch gar nichts passiert. Laut, überfüllt, schmutzig, gefährlich. Und doch war ich hier, inmitten all der Hässlichkeit, von der man mich bisher so sorgsam ferngehalten hatte, und war schutzlos den sensationslüsternen, verachtungsvollen, rachedürstenden Blicken ausgeliefert, die mir das Fleisch von den Knochen zu reißen drohten. Ich, die ich bis dahin so gekonnt den Augen der Welt entzogen worden war, stand nun zusammen mit meiner Muttersmutter auf einem erhöhten Podest, das die Tribüne noch überragte, auf der die übrigen Neolys aufgereiht waren wie eine bizarre Menagerie, die man zur Belustigung – nein, zur Befriedigung – des Volkes zusammengetrieben hatte und deren Herzstück die Nembdr-Gebärerin und die Nembdr-Brut waren. Eine robuste Witwe mit langem Silberhaar und kräftigen Händen und ein zu kleines, zu zierliches Mädchen mit zu schrägen Augen. Beide hätte man wohl noch einen Tag zuvor keines zweiten Blickes gewürdigt, wäre man ihnen auf der Straße begegnet; heute jedoch drückte ihnen die Blutsverwandtschaft zu der Abnormität ein Schandmal auf.
Nach Halt suchend umkrallte ich zwei Finger meiner Muttersmutter, deren andere Hand beruhigende Kreise auf meine Schulter streichelte, die so sinnlos waren, wie sie für sie schmerzvoll sein mussten. Nur zu gut konnte ich mir die Pein in den Augen Synnda Pánns vergegenwärtigen, als sie zwei Tage zuvor in der Trutzburg angekommen war. Zum ersten Mal hatte ich da die Bedeutung dieses Wortes begriffen, Pein, und ich hatte mich nutzlos danach gesehnt, etwas sagen zu können, das den Schmerz dieser sanften Frau lindern würde, dieser Frau, die von dem Künstlerplaneten Yallchá gekommen war, um ihre Tochter sterben zu sehen, dieser Frau mit den kräftigen Töpferhänden, die ich kaum kannte und die doch die Mutter meiner Mutter war.
Hier sitz’ ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.
Ich schüttelte mich, um die Gedichtzeilen aus meinem Kopf zu bekommen, die belanglos waren jetzt und keinen Sinn machten, aber nichts ergab mehr Sinn.
»Es ist gut, Kind«, sagte Synnda Pánn in meinem Rücken, als wüsste sie nicht, dass das Wort ›gut‹ nichts mehr bedeutete. »Bald ist es vorbei.«
Ihre Finger verkrampften sich um meine Schultern bei ihren eigenen Worten, krallten sich in den gelben Stoff meines Kleides, das Synnda Pánn an diesem Morgen selbst für mich ausgesucht hatte, als könnte es die Menge hasserfüllter Nchrynnai darüber hinwegtäuschen, dass ich die Tochter einer Nembdr war, die Tochter der Baummörderin. Vielleicht war es auch blanker Trotz, der meine Muttersmutter diese lichtumflorte Farbe für uns beide hatte wählen lassen, ein ohnmächtiges Stirnbieten im Angesicht der Mörder ihrer Tochter, der eigenwillige Widerstand einer einfachen Töpferin gegen das gesamte Reich. Synnda Pánn hatte ein Rückgrat aus Fels, und wenn sie am Zusammenbrechen war, dann würde niemand etwas davon sehen. Ich jedoch, ich hatte nicht vorgehabt, irgendjemandem sinnlosen Widerstand zu leisten. Ich fühlte mich winzig, umgeben von der ganzen überbordenden Pracht des Memnáh, die auf den Großen Platz drückte wie steingewordene Geschichte, Berufenenpalast, Einheitstempel und Gründerdenkmal. Und doch gab es etwas in mir, das wohl über die Fingerspitzen meiner Muttersmutter in mein Inneres gesickert sein musste und das über die phallische Architektur abfällig die Nase rümpfte. Es war in diesem Teil meines Selbst, wo kalte Verachtung die Angst überwog. Dazwischen, zwischen Entsetzen und Kälte, gab es nichts.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, an meine Großmutter gelehnt, mit der wogenden Masse zu meinen Füßen, die ich mich weigerte, als eine Ansammlung empfindungsfähiger, atmender Wesen anzuerkennen. Ich versuchte, den schmutzig-grauen Scheiterhaufen aus getrocknetem Pilzgewächs zu ignorieren, unfähig zu begreifen, dass irgendwann in der nächsten Mnega meine Mutter dort stehen und brennen würde. Stattdessen suchte ich unter den Neoly-Männern, die in vorderster Front auf der schmachvollen Tribüne standen, immer und immer wieder meinen großen Bruder, der nicht weit von unserem Podest in die geifernde Menge blickte, das Gesicht kalkweiß. Er stand zwischen meinem Vater und dem alten Neoly, die beide eine identische steinerne Miene zur Schau trugen. Ihre Augen wirkten wie glänzender Obsidian. Ich wusste, dass mein kleiner Bruder irgendwo weiter hinten bei meiner anderen Großmutter stand, aber nach ihm suchte ich nicht; mir war klar, würde ich seinen Blick einfangen, würde ich die Tränen nicht zurückhalten können, und die Befriedigung, mich weinen zu sehen, wollte ich keinem einzigen dieser Bastarde geben, die gekommen waren, um meiner Mutter beim Sterben zuzuschauen.