»Warum tut Ihr das?«, fragte sie ihn. Vorgeplänkel war für Leute, die noch Zeit hatten. »Wie könnt Ihr, ein Wy-priester, der sich dem Dienst des Ersterschaffers geweiht hat, eine solche Lüge aussprechen?«
Sna musterte sie von oben herab, als wäre er überrascht, dass die Made sprechen konnte. »Es ist keine Lüge. Wir kleiden die Wahrheit lediglich in Worte, die jeder verstehen kann. Du bist widernatürlich, Frau. Wir wissen das, und du weißt es auch. Und dank uns weiß es der Rest des Singisischen Reiches nun ebenfalls.«
Sie schnaubte. »Das also erzählt Ihr Euch? Dass es eine gottgefällige Lüge ist?«
»Es ist keine Lüge.«
»Eine Lüge ist eine Lüge, Priester! Ganz egal, in welche höhere Wahrheit Ihr Euer Märchen zu ›kleiden‹ glaubt: Ich habe keinen Heiligen Baum angezündet.«
»Aber du bist eine Nembdr.«
Er hatte recht. Wenn man alte, antiquierte Definitionen anlegte, dann hatte er voll und ganz recht. Aber sie hätte ihr Leben darauf verwettet, dass es ihm nicht wirklich darum ging. Sie wünschte, sie könnte es tun, ihr Leben darauf verwetten.
»Was gibt er Euch dafür, hm? Welchen Preis zahlt der ruhmvolle Oberste Priester, der Krieg gegen eine Frau führt, für Eure Seele? Wie teuer seid Ihr, das würde mich schon interessieren.«
Das Schlangentier richtete sich zu seiner ganzen Höhe auf. Lys konnte nicht bestreiten, dass es eine beeindruckende Figur abgab.
»Du weißt gar nichts, Frau! Es liegt keine Schande darin, seinem Obersten Priester das zu geben, was er begehrt. Und du täuschst dich selbst, wenn du in deiner Eigenliebe glaubst, hier ginge es um dich. Die Wahrheit ist: Ich lege ihm die Vorsteherschaft zu Füßen. Und er wird das Reich Wys errichten und uns Nchrynnai ins Licht führen.«
Snas Augen glänzten selbst im schummrigen Licht der Zelle, und Lys befürchtete allmählich, dass der junge Priester glaubte, was er sagte.
»Ist Euch eigentlich klar, dass Ihr benutzt werdet?« Die Frage entriss sich ihr, ehe sie darüber nachdenken konnte, aber es war eine gute, wie sie fand.
»Wozu sollte er mich wohl benutzen?«
Arroganz. Arroganz, Selbstgefälligkeit und Fanatismus. Asnuor hätte keinen fruchtbareren Boden finden können, um seine Saat auszusäen.
»Wozu immer er will. Seht Euch doch nur an, was hier passiert: Er will eine Nembdr verbrennen, und Ihr gebt ihm eine. Er will mich tot, und Ihr liefert ihm das Werkzeug dazu.«
»Ich liefere ihm die Töchter der Lchnadra, du dummes Weib. Schon morgen wird Ktorram den Antrag stellen, alle Mitglieder der Organisation offiziell zu Nembdrai zu erklären, und die Runde der Berufenen wird dem stattgeben. Sie haben keine andere Wahl mehr.«
Ktorram. Der schöne, kleine Priester hatte sich gerade verraten, und Lys musste schlucken. Arroganz, Selbstgefälligkeit, Fanatismus und Liebe. Allgütige Lchnadra!
»Armer Junge«, sagte die Mutter in ihr.
Sna zischte, als wäre er tatsächlich eine Schlange. »Heb dir dein Mitleid für dich selber auf, Nembdr! Du wirst es brauchen.«
»Er wird Euch fallen lassen«, sagte sie. »Wahrscheinlich noch nicht bald. Vielleicht noch nicht einmal für lange Zeit. Aber früher oder später wird er Euch fallen lassen. Er wird Euch benutzen und wegwerfen und Euch dabei das Herz herausreißen, sodass Euch nichts weiter bleibt als ein blutiges Loch.«
Snas bildschönes Gesicht wurde zu einer undurchdringlichen Maske. »Soll das ein Fluch sein, Nembdr?«
»Es ist eine Warnung, Schlange.«
Ein kurzes Zucken der stecknadellangen Wimpern, sonst nichts. »Ich brauche deine Warnungen nicht. Du weißt gar nichts.«
»Oh, ich weiß. Er hat es zuvor schon getan, und er wird es wieder tun. Ich hoffe, er tut es nur Euch.«
Die perfekten Züge verzerrten sich, und Lys wusste nicht, was sie da sah. Aber sie begriff, dass das Schlangentier recht gehabt hatte: Es brauchte ihr Mitleid nicht. Dann wandte sich Mnuran Sna mit hocherhobenem Haupt von ihr ab und verließ ihre Gefängniszelle. Lys sollte nie erfahren, was er eigentlich von ihr gewollt hatte.
Vairrynn hatte bis zu diesem Tag nur gerüchteweise von dem Zimmer gehört, das sich Jemsi und Kerkiss Neoly teilten, zwei Achte Töchter, über die sich niemand sonderliche Gedanken gemacht hätte, hätte nicht die ältere der beiden die helle, blonde Lieblichkeit ihrer Ostküstenmutter geerbt. Und deren verschrobenen Geist, so hieß es. Das Zimmer lag tief in den Eingeweiden der Trutzburg, in einem kleinen Anbau, der wie ein Halbmond einen noch kleineren Innenhof umschloss und kaum Sonnenlicht abbekam. Vor ein paar Jahren hatte Jemsi fünf der Wände in warmen Gelb- und hellen Blautönen gestrichen; auf die sechste und längste hatte sie in Rot, Braun und Orange weibliche Figuren gemalt, die um einen Brunnen herumstanden, eingerahmt von Blättern und Zweigen. Die Frauen hatten keine Gesichtszüge und ihre Körper wirkten ziemlich eckig, aber Vairrynn mochte das Wandgemälde trotzdem. Er hatte es bisher noch nie gesehen, wusste nur davon, weil Jemsi einen mittleren Aufruhr in der Trutzburg ausgelöst hatte, als sie die Stirn besessen hatte, ihren Raum umzugestalten, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Damals hatte Vairrynn das Gezeter kleinlich und lächerlich gefunden, aber jetzt erschien es ihm wie ein winziges Steinchen in einem Mosaik von Falschheit und Ungerechtigkeit. Er hatte geglaubt, er wüsste, wie dieses Mosaik aussah. Er hatte sich geirrt. Selbst in seinen schlimmsten Träumen hatte er keine Frau brennen sehen und seine Mutter schon gar nicht. Solche Dinge passierten einfach nicht mehr. Hatte er gedacht. Hatten sie alle gedacht.
Vairrynn spürte seinen linken Arm nicht mehr, aber das war ihm egal. Der Unterarm war unter Jemsis Oberkörper eingeklemmt, während Myn ihr Gesicht in seiner Schulter vergraben hatte. Vairrynn war sich nicht ganz sicher, ob sie noch schlief oder nicht. Ihre Atemzüge waren klein und flach, aber sie regte keinen Muskel. Mudmal hatte sich irgendwann im Laufe der Nacht am Fußende des Bettes zusammengerollt. Es war erschreckend, wie wenig Platz er brauchte. Die kleine Kerkiss hatte sich vor etwa einer halben Mnega aus dem Bett gerappelt und etwas von Frühstück für alle gemurmelt. Bisher war sie nicht wiedergekommen. Vairrynn für seinen Teil konnte nicht aufstehen, ohne seine Geschwister und Kusine aufzustören, aber er wollte auch gar nicht. Aufzustehen bedeutete, der Welt ins Gesicht zu sehen, und er hatte keine Ahnung, ob er das konnte.
Er war einfach tatenlos dagestanden. Vairrynn wusste nicht, wie er Sna hätte aufhalten sollen oder Asnuor oder die Sicherheitskräfte, aber irgendetwas … Ngdra, wozu war es denn gut, das, was ihn so anders machte, wenn er nichts damit anfangen konnte, nicht, wenn es wirklich zählte? Er dachte an Lys Neoly und die Schichten von Stein unter ihrer Haut und wie klein sie sich in seinen Armen angefühlt hatte angesichts der Sicherheitsmänner mit ihren Strahlergewehren und Sna mit seiner Lüge. Und dann war da Asnuor gewesen, und aller Protest und Widerstand, den irgendwer hätte vorbringen können oder wollen – der alte Patriarch vielleicht mit seinem Neoly-Zorn oder Eftnek, der sich vor seiner Frau aufgestellt hatte wie ein Bretterzaun gegen Sturmwind, oder verdammt nochmal Vairrynn selbst – all das fiel in sich zusammen wie so viel Nichts, und Vairrynn wusste, wusste, wusste, dass das nicht an den Gewehren der Sicherheitsleute gelegen hatte oder zumindest nicht nur. Sie hätten Beweise verlangen sollen, mehr als nur das Wort eines unerprobten Priesters, um dessen Befangenheit ein jeder wusste; hätten einen formalen Protest gegen das Urteil Asnuors einlegen sollen, auch wenn es ihnen nicht mehr gebracht hätte als einen Schluckvoll Zeit. Ja, es gab wenig, das sie hätten tun können. Aber sie hatten nichts getan. Er hatte nichts getan.
Die Tür öffnete sich, und unwillkürlich breitete sich Vairrynn wie eine Decke über seine Schwester und seine Kusine, nicht nur seinen Arm, sondern sein ganzes Selbst. Unter der Tür stand Eftnek Neoly, und er war bleich wie das Grab.
»Ich muss …«, begann der Holzsteinschnitzer rau, hielt inne. Er sah Vairrynn an, überrascht und ein wenig verwirrt, und irgendetwas glänzte in seinen dunklen Augen,