»Lügner«, rief sie. »Ihr lügt!«
Vielleicht hätte sie etwas anderes sagen sollen. Es war die Wahrheit, aber das brachte ihr nichts. Er war ein Priester. Sie war nur eine Frau. In meinem Kiefer prickelte es, als wollte etwas zubeißen.
»Schweig, Frau!«, sagte Asnuor, der Sna die linke Hand auf die Schulter legte. Zum ersten Mal, da ich ihn sprechen hörte, klang seine Stimme scharf anstatt süß. »Du bist als Nembdr entlarvt.«
Da kauerte meine Mutter nicht mehr. Sie löste sich aus Vairrynns Griff und fauchte den Obersten Priester an. Ich kann es nicht anders beschreiben, aber es war kein Geräusch, wie ich es je von einer Frau vernommen hatte.
»Und du, du lügst auch!«
Der erste Vorwurf war nutzlos gewesen. Dieser war ihr Todesurteil. Oder vielleicht auch nicht. Das war schon in dem Augenblick gesprochen worden, in dem Priester Sna den Mund aufgemacht hatte.
Asnuor richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Sein Körperbau war nicht so beeindruckend wie der des Priesterkriegers zu seiner Linken oder der Neoly-Männer mit ihren breiten Rücken, und doch schien der Oberste Priester sie alle zu überragen, sogar Vairrynn mit seinen langen nordischen Gliedern. Asnuors Miene war kühl und herrschaftlich. Aber unter dieser Oberfläche brannte etwas, und es war schwarz und heiß und triumphierend. Ich wand mich in Tante Teggris Griff.
»Mynrichwy«, zischte sie verzweifelt. Ich hörte auf. Ich weiß nicht, warum ich aufhörte.
»Lys Pánn Neoly«, verkündete Ktorram Asnuor, den vollen Namen meiner Mutter aussprechend, »auf Aussage des ehrenwerten Priesters Sna und angesichts überwältigender Beweise spreche ich dich der Widernatürlichkeit schuldig und erkläre dich für eine Frevlerin. Kraft meines Amtes als Oberster Priester des Wy verurteile ich dich zum Tod durch das Feuer.«
Es war vorbei.
Sie nahmen meine Mutter mit und meinen Vater auch. Er würde wiederkommen, sie nicht. Meine Brüder und ich standen da wie Waisen, mochten uns die Neolys auch umschwirren wie ein Schwarm von Mittagsvögeln. Als Teggri mich von meinen Brüdern wegzog, fragte ich nicht, wieso. Großmutter und sie steckten mich in eine Badewanne mit zu heißem Wasser, wuschen mir die Haare und schrubbten mir die Ohren, Fingernägel und Füße. Die alte Frau fütterte mich mit Tee und Kuchen, während Teggri mein Haar über einem Glutstein trocknete, und sang leise vor sich hin. Ihre Stimme, die sonst immer hüpfte wie etwas Kleines, Aufgeregtes, klang wie der Wind, wenn er in der Sturmzeit um die Ecken unseres Küstenhauses strich. Ich biss in meinen Kuchen und schluckte ihn nicht hinunter, bis Teggri mir eine Schüssel hinhielt, in die ich den Bissen durchweichten Teigs hineinspucken konnte. Die runden Hände meiner Großmutter sprangen über mein warmes Haar, und ihr Windlied erstarb mit einem Zittern.
Schließlich landete ich in einem Schlafzimmer, das sich zwei meiner Großkusinen teilten, und wurde in das überbreite Bett gepackt. Tante Teggri gab mir einen Kuss auf die Stirn und wies meine Großkusinen an, sich um mich zu kümmern. Dann verschwand sie mit einem aufgebrachten Röckerauschen aus der Tür, und die beiden bedauernswerten Mädchen saßen in respektvollem Abstand vor mir auf dem Bett und starrten die Tochter der Nembdr mit Mitleid in den runden Augen an. Ihre Gegenwart drückte auf meine Brust, und ich wünschte mich in unser Küstenhaus, in mein Zimmer, und dann fiel mir wieder ein, warum ich nicht dort war, und ich schrie die beiden an, sie sollten mich nicht so ansehen, als würden sie auch nur ein Wort von dem glauben, was der schöne Lügenpriester gesagt hatte. Kerkiss, so alt wie ich und chronisch missgelaunt, schnaubte darauf und zog sich schmollend auf die Couch zurück, aber Jemsi, die Ältere, nahm mich schweigend in die Arme und hielt mich so fest, dass ich endlich nicht mehr das Gefühl hatte auseinanderzufallen. Ich klammerte mich an meine große Kusine, selbst als es schließlich an der Tür klopfte.
»Nein, du kannst nicht reinkommen, Vairrynn«, rief Jemsi, ohne nach der Identität des Klopfenden zu fragen.
»Komm schon, Ems, sei kein Idiot«, drang die Stimme meines großen Bruders durch die Tür. »Wir werden euch bestimmt nichts wegschauen.«
Ich spürte Jemsi gegen meine Wange seufzen. »Also gut, Vairrynn. Aber wenn wir Ärger bekommen, sag ich allen, du bist schuld.«
»Sag ihnen, was du willst, aber lass uns rein.«
Ich hörte das Geräusch der sich öffnenden Tür – es musste Kerkiss sein, die meine Brüder hereinließ –, und spürte, wie sich die Matratze senkte. Einen Moment später umschlossen mich und Jemsi die Arme meines großen Bruders und trieben mir die Tränen in die Augen. Dass Mudmal sich an mich schmiegte, als würde er Schutz suchen, half nicht gerade dagegen. Ich drückte ihn fest, so fest. Kurz darauf gesellte sich Kerkiss’ Arm zu meinem, als sie sich um meinen kleinen Bruder rollte wie eine übergroße Katze. Lange lagen wir so, ohne zu sprechen, bis wir schließlich einer nach dem anderen einschliefen, zu einem einzigen großen Neoly-Bündel verknotet.
Im Herzen des Wytempels saß Eftnek Neoly im Audienzzimmer des Obersten Priesters und war unbeeindruckt von dem Prunk um ihn herum. Er starrte auf einen tiefen Riss, der sich durch den antiken Tisch unter seinen Fingern zog. Irgendwo in seinem Kopf hatte sich eine Idee eingenistet, wie sich dieser Riss reparieren ließe, aber er war nicht als Holzsteinschnitzer hier.
Eftnek presste seine Handflächen auf die lädierte Tischplatte. Großer Wy! Er schluckte schwer und fragte sich, ob es normal war, als Ehemann einer Nembdr in das Audienzzimmer des Obersten Priesters geladen zu werden. Eftnek vergrub das Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf. Wie auch immer erlesen die Örtlichkeit, er wusste, dass das, was ihn erwartete, nichts anderes war als ein Verhör. Dann hob er den Kopf und starrte seine Hände an.
»Ich bin ein Künstler«, flüsterte er. Seine Hände waren nie zu etwas anderem gedacht gewesen, als Werke der Schönheit zu schaffen. Er schloss die Augen und meinte fast, Lys’ bluterdiges Haar zwischen seinen Fingern zu spüren. Seine Kehle brannte. Er hatte sie vor so langer Zeit verraten, und nur der Allerhöchste wusste, was er getan hätte in seinem Zorn, wäre Vairrynn nicht gewesen, dessen ruhige Hände und starke Stimme genauso gut Nohaín hätten gehören können. Einen Moment lang hatte Eftnek den Wind der nordischen Steppe im Gesicht und Nohaíns rollendes Lachen in den Ohren, das sich mit dem fröhlichen Kinderquietschen seines kleinen Sohnes verflocht. Vairrynn war so ein fröhliches Baby gewesen und Nohaín und Sannáh die glücklichsten Eltern auf der Nordhalbkugel. Auf dem ganzen Planeten. Im gesamten Singisischen Reich. Vielleicht im Universum. Damals war auch Eftnek glücklich gewesen, wie er es immer war angesichts der Ruhe in Nohaíns Gesicht und der Liebe im Lächeln seiner Frau. Und dann war der Tod gekommen und Vairrynn in seine Familie, und trotz der Trauer war vieles lange Zeit noch gut gewesen. Eftnek fragte sich, was Nohaín wohl heute getan hätte, wäre er noch am Leben, und wusste keine Antwort darauf.
Die Tür des Audienzzimmers öffnete sich, und Ktorram Asnuor trat herein. Er war allein. Eftnek war sich ziemlich sicher, dass diese Geste Vertrauen suggerieren sollte, aber in Wirklichkeit signalisierte sie Verachtung.
»Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie so lange habe warten lassen, Morrtahn«, sagte der Oberste Priester mit seiner Schmeichelstimme. Der überzogene Ehrentitel stellte Eftnek die Ohren auf. Seine Hände verkrampften sich auf der rissigen Tischplatte.
»Sie verschwenden meine Zeit und die Ihre, Asnuor. Ich werde meine Frau sicher nicht offiziell eine Nembdr nennen.«
Asnuors Brauen wanderten nach oben. Der schräge Blick jagte Eftnek einen Schauer über den Rücken, auch wenn er nicht hätte sagen können, wieso.
»Und inoffiziell?«
»Ich würde nie, nie meine Frau mit diesem Wort belegen!« Eftnek wusste nicht, ob das eine Lüge war oder nicht, ob dieses verdammende Wort aus ihm herausgebrochen war all die Male … Er schüttelte sich. Wenn er sich nur erinnern könnte!
»Ah«,