Levi. Melanie Meier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Melanie Meier
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754146910
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ist nicht nötig. Es ist falsch. Es ist das Blut.«

      Ihr Mund verengte sich zu einem Strich. Sie setzte die Brille wieder auf. »Levi, ich verstehe, dass du nicht anders kannst. Du möchtest helfen. Aber es ist nicht richtig, einfach Dinge zu sagen, von denen man nichts weiß. Du verunsicherst die Leute. Du möchtest doch nicht, dass man das mit dir macht, oder? Dann mach es auch nicht mit den Leuten um dich herum.«

      »Ich verunsichere Sie nicht, ich sage die Wahrheit. Gehen Sie und lassen Sie Ihr Blut untersuchen.«

      »Was hast du gesehen? Wer hat dir das gesagt?«

      »Niemand.«

      »Was hast du gesehen?«

      »Sie.«

      »Jetzt gerade?«

      »Ja.«

      »Was habe ich getan?«

      »Sie lagen in einem Bett, mit einem Tuch auf dem Kopf. Sie waren sehr krank. Man hat die Krankheit zu spät erkannt.«

      »Levi, wir sind uns einig, dass wir gerade alle beide auf Stühlen in meiner Praxis sitzen, ja?«

      Levi nickte.

      »Liege ich in einem Bett?«

      »Nein.«

      »Trage ich ein Tuch auf dem Kopf?«

      Er verneinte und sah in seinen Schoß.

      »Levi«, ihre Stimme klang jetzt sanfter, »wie kommst du also darauf, ich läge in einem Bett?«

      Er zuckte mit den Schultern. Schweigen folgte.

      »Manchmal passieren Dinge in unseren Köpfen, in den Gehirnen, die wir nicht unter Kontrolle haben. Sie spielen uns etwas vor, das nicht wirklich passiert. Kannst du dir vorstellen, dass das bei dir so ist?«

      Levi hob den Blick. »Nein. Was ich sehe, passiert. Manchmal dauert es länger, bis es passiert.«

      Die Psychiaterin überlegte. »Spielst du gern?«

      »Ja. Mit Lego.«

      »Was zum Beispiel spielst du mit Lego?«

      Levi dachte nach. »Gestern habe ich mit Phil, meinem Freund, eine Stadt aufgebaut. Da gab es fliegende Autos.«

      »Das hört sich schön an. Ist die Stadt, die ihr gebaut habt, Wirklichkeit?«

      »Vielleicht irgendwann.«

      »Ist sie jetzt wirklich?«

      »Nein.«

      »Ihr habt also eure Phantasie benutzt, um etwas zu erfinden, das es nicht gibt. Das macht unser Gehirn. Manche Leute können nicht unterscheiden, was wirklich ist und was nicht, sie sehen den Unterschied zwischen Phantasie und Wirklichkeit nicht. Ich glaube, dass das bei dir auch manchmal vorkommt.«

      »Ich kann das unterscheiden.«

      »Aber du hast mich gerade in einem Bett gesehen.«

      »Das ist etwas anderes.«

      »Gibt es noch andere Dinge, die du siehst? Menschen vielleicht, die deine Mutter oder Phil nicht sehen?«

      Wieder schwieg er.

      Die Psychiaterin nickte und notierte etwas. »Sind es Menschen?«

      »Nein.«

      »Andere Wesen?«

      »Nein.«

      »Aber irgendetwas siehst du. Willst du mir davon erzählen?«

      »Nein.«

      »Macht dir das, was du siehst, Angst?«

      Levi dachte an die Schatten. Sie kamen nachts, meistens nachts. Er nickte vorsichtig.

      Die Frau lächelte. »Du erzählst mir davon, wenn du es für richtig hältst, okay? Eines kann ich dir aber sagen: Du musst dich davor nicht fürchten, was auch immer es ist. Es ist nicht wirklich. Es passiert nur in deinem Kopf. Glaubst du, es würde dir helfen, wenn ich mit deiner Mutter darüber spreche? Damit du das nächste Mal, wenn du dieses Etwas siehst, zu ihr gehen kannst und sie dir mit ihrer Gegenwart hilft?«

      »Nein. Das hilft nicht.«

      »Ich werde es deiner Mutter trotzdem sagen, und wenn du das nächste Mal doch den Wunsch verspürst, zu ihr zu gehen, dann mach es. Unsere Zeit ist jetzt leider schon um, Levi. Hast du noch etwas auf dem Herzen, ehe ich dich wieder deiner Mutter übergebe?«

      »Muss ich wieder herkommen?«

      Die Psychiaterin nickte. »Ja. Wir werden einige Zeit miteinander verbringen. Du wirst sehen, dass es dir hilft.«

      »Muss ich weiter diese Tabletten nehmen?«

      »Sie helfen dir auch. Sie werden machen, dass du diese Dinge nicht mehr sehen musst.«

      Levi schüttelte den Kopf. »Seit ich sie nehme, bin ich anfälliger. Es wird schlimmer.«

      Die Psychiaterin notierte wieder etwas. »So was musst du mir immer sofort sagen. Ich rede mit deiner Mutter, du bekommst andere Tabletten. Da muss man manchmal verschiedene probieren, bis man die richtigen gefunden hat.« Sie stand auf. »Warte hier. Ich gehe rasch zu deiner Mutter, und dann kannst du endlich nach Hause.«

      Sie aßen zu Abend. Levi sah immer wieder von seinen Pfannkuchen auf und zu seiner Mutter hin, die nur in ihrem Essen stocherte. Soweit er sich erinnern konnte, war seine Mutter blass und traurig. Jetzt war es, als habe die Traurigkeit eine neue Tiefe erreicht.

      Ihre Blicke begegneten sich.

      »Nimm dir noch einen«, sagte Mutter und zeigte auf die Pfannkuchen, die auf einem Teller aufgetürmt lagen. »Hilda kommt erst spät heim, sie hat Nachtdienst. Wir werden morgen leise sein müssen, der Beruf der Altenpflegerin ist nämlich anstrengend. Sie muss ausschlafen können.«

      Levi nickte. Er nahm sich keinen weiteren Pfannkuchen, er hatte keinen Hunger mehr.

      »Wie findest du die Ärztin? Verstehst du dich mit ihr?«

      »Ja. Sie ist nett. Aber ich will nicht noch mal zu ihr. Sie glaubt, ich bin verrückt.«

      Seine Mutter sah ihn an. In ihren Augen sammelten sich Tränen. Levi griff unwillkürlich über den Tisch und legte seine Hand auf ihre. Seine Mutter lächelte, als er das tat.

      »Du bist ein guter Junge«, sagte sie. »Zusammen stehen wir das durch, hörst du? Wir beide, wir werden das hinkriegen.«

      Levi wollte sagen, dass es nichts gab, was sie durchstehen mussten, aber er hatte einen Kloß im Hals. Er wusste, sie würde ihm nicht zuhören. Sie wollte nicht hören, was er zu sagen hatte.

      »Ich gehe Zähne putzen.« Er stand auf, lief ins Badezimmer, sperrte hinter sich ab und setzte sich auf den Teppich. Das Gesicht in den Händen vergraben, weinte er lautlos.

      Als er einige Minuten später den Kopf hob, sah er die Drillinge zum ersten Mal. Sie standen Schulter an Schulter an Schulter hochaufragend vor ihm und schauten ihm in die Augen. Er konnte durch sie hindurchsehen, aber sie waren da. Und er hatte keine Angst, nicht wie bei den Schatten. Ihre Gegenwart war angenehm. Trotzdem konnte er sich nicht bewegen.

      »SEIN HERZ ERSCHRECKE NICHT UND FÜRCHTE SICH NICHT«, sagten sie. Sie sprachen gleichzeitig, ihre Münder bewegten sich, aber es hörte sich wie eine einzelne Stimme an. »ICH BIN DER WEG, DIE WAHRHEIT UND DAS LEBEN.«

      Levi starrte sie an.

      »KEINE TABLETTEN NEHME ER ZU SICH. FREI IST DER GEIST IN SEINER NATÜRLICHKEIT.«

      Während sie ihn weiterhin ansahen, verblassten sie. Übrig blieben nur das Badezimmer und das angenehme Gefühl.

      Levi wusste sofort, dass sie gut waren. Woher auch immer sie kamen, sie hatten bestätigt, was er gefühlt hatte: Die Tabletten, die ihm die Psychiaterin gab, durfte