Levi. Melanie Meier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Melanie Meier
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754146910
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diesen normalen Dreißigjährigen, und das allein zieht mich schon an. Als ich ihn damals am Brunnen sitzen sah, da hat er so einen meditativen Eindruck gemacht, so in sich gekehrt, einsam, besoffen, und trotzdem zufrieden. Die Mischung hat mich angezogen.«

      »Du bist auch nicht wie die anderen, was?«

      »Genauso wenig wie ihr.« Karoline hob den Krug und sie stießen an.

      »Unnötig anzumerken, dass ich auch hier bin«, murmelte Levi.

      »Bitte?«

      »Ihr redet über mich, als wäre ich nicht da.«

      »Bist du ja meistens auch nicht.« Phil zwinkerte.

      24.04.1996

      Als er zu Hause ankam, legte er sich in sein Bett und schlief. Zwei Stunden später weckte ihn seine Mutter.

      »Wieso bist du daheim und nicht im Krankenhaus?«

      »Ich bin gesund.«

      Sie setzte sich an die Bettkante, nahm seinen Kopf in beide Hände und sah sich die Platzwunde an. Danach begutachtete sie seine Hand, tastete sie ab und bewegte die Finger. Ihr Blick war unergründlich.

      »Wir wohnen solange bei Hilda. Das Haus muss renoviert werden, es ist nicht mehr sicher.«

      Levi nickte.

      »Steh auf und geh duschen. Ich packe deine Kleidung ein. Wir fahren noch einmal ins Krankenhaus.«

      »Ich bin gesund«, wiederholte Levi.

      »Das entscheiden die Ärzte.« Seine Mutter stand auf, kehrte ihm den Rücken zu und fing an, den Kleiderschrank auszuräumen.

      »Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe.«

      Sie hielt inne, drehte sich aber nicht um. »Geh und wasch dich.«

      Eine halbe Stunde später stiegen sie ins Auto und fuhren zurück ins Krankenhaus. Die ältere Krankenschwester war wieder da. Sie sagte, sie hätten Levi schon überall gesucht. Sie begleitete seine Mutter und ihn in einen Wartebereich, und fast eine Stunde später kam jemand, der Levi für eine Röntgenaufnahme abholte. Als er zurück in den Wartebereich kam, unterhielt seine Mutter sich mit einem Arzt. Levi ging zu ihnen. Die beiden verstummten und betrachteten ihn.

      »Kommen Sie nach den Untersuchungen in den dritten Stock«, sagte der Arzt schließlich. »Dann sehe ich mir Ihren Jungen mal an.« Er drehte sich um und verließ den Raum.

      »Was will er ansehen?«

      Seine Mutter führte ihn zurück zu den Stühlen, sie setzten sich. »Er wird dich ein paar Sachen fragen. Das ist alles.«

      Sie wurden aufgerufen und folgten einer Schwester in einen Behandlungsraum. Einer der Ärzte, der Levi betreut hatte, wartete dort auf sie. Er gab seiner Mutter die Hand und bat sie, sich zu setzen.

      »Der Mittelhandbruch ist verheilt«, sagte er. »Komm mal her, Levi.«

      Levi stellte sich hin, der Arzt tastete seinen Kopf ab.

      »Auch die Platzwunde ist geheilt. Ich entferne gleich die Fäden. Setz dich.« Der Arzt sah Levis Mutter an. »Das nenne ich eine Blitzheilung. Ich kann es mir nur so erklären, dass wir uns getäuscht haben und kein Mittelhandbruch vorgelegen hat. Vielleicht eine Verwechslung der Röntgenbilder.«

      »Dann können wir gehen?«

      »Ja. Ich nehme nur noch rasch die Fäden heraus.«

      Anschließend fuhren sie mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Seine Mutter meldete sie bei der dortigen Station am Empfang an, und wieder mussten sie warten. Levi hielt sich still, weil er wusste, dass seine Mutter nicht gut auf ihn zu sprechen war. Sie war sicher noch wütend, weil er sie geschlagen hatte.

      Der Arzt aus dem Wartezimmer kam und holte sie ab. Wieder waren sie in einem Behandlungszimmer, dieses Mal aber saß Levi direkt vor dem Arzt, seine Mutter im Hintergrund. Der Arzt wirkte nett.

      »Wie alt bist du, Junge?«

      »Dreizehn.«

      »Gefällt es dir in der Schule?«

      »Geht so.«

      »Hast du viele Freunde?«

      »Einen. Phil. Die anderen kenne ich nur, wir spielen zusammen.«

      »Und deine Noten? Wie sehen die aus?«

      Levi zuckte mit den Schultern. »Einser und Zweier.«

      Der Arzt sah zu seiner Mutter hinüber. Als er wieder Levi anschaute, lächelte er. »Deine Mutter hat mir erzählt, dass bei euch daheim ein Unglück passiert ist. Die Decke im Wohnzimmer ist eingestürzt.«

      Levi nickte.

      »Kannst du dich daran erinnern?«

      »Ja.«

      »Willst du mir erzählen, was passiert ist?«

      »Nein.«

      Der Arzt hielt einen Moment inne. »Warum nicht?«

      »Weil es schon vorbei ist.«

      »Fühlst du dich anders als vor dem Unglück?«

      »Ja. Es sind ein paar Tage vergangen seitdem. Außerdem war ich das erste Mal im Krankenhaus.«

      »Kannst du in Worte fassen, wie du dich fühlst?«

      »Anders als vorher.«

      »Fühlt es sich besser oder schlechter an?«

      Levi zuckte erneut mit den Schultern. »Spielt das eine Rolle?«

      Der Arzt beugte sich ein bisschen vor und lächelte wieder. »Schau, Levi, deine Mutter macht sich Sorgen um dich. Manchmal sind solche Ereignisse belastend. Wir wollen nur sichergehen, dass es dir gut geht.«

      »Es geht mir gut.« Levi drehte sich auf dem Stuhl um und sah seine Mutter an. »Wirklich.«

      »Levi«, sagte der Arzt und wartete, bis Levi sich wieder umwandte. »Deine Mutter hat mir auch erzählt, dass euer Nachbar bei diesem Unglück gestorben ist.«

      »Ja. Er hatte ein schwaches Herz. Seine Zeit war gekommen.«

      Wieder ein kurzes Innehalten des Arztes. »Wie meinst du das?«

      »Er war alt. Ich konnte schon seit einigen Monaten riechen, dass er bald stirbt. Herr Gruber wusste es selber, er hat es mir gesagt.«

      »Was hat er gesagt?«

      »Er sagte jeden Tag, wenn ich ihn traf, dass es ein guter Tag wäre, um zu sterben.«

      »War er freundlich zu dir, der Herr Gruber?«

      »Er war zu niemandem freundlich. Er war grimmig, weil er wusste, dass er bald stirbt. Ich konnte es riechen.«

      »Wie riecht jemand, der bald stirbt?«

      »Alt. Wie der feuchte Keller von Phils Oma, in dem sie Obst und Gemüse aufhebt.«

      Der Arzt lächelte nachsichtig. »Da war noch etwas, bevor das Unglück passiert ist. Willst du es mir erzählen?«

      Levi wusste jetzt, worauf der Arzt hinauswollte. Er sah auf seine Hände im Schoß hinab und schüttelte den Kopf.

      »Du hast deiner Mutter das Leben gerettet, nicht wahr?«

      Levi zuckte mit den Schultern. Er fühlte seine Mutter im Rücken.

      »Du hast sie geschlagen, weil sie nicht auf dich hören wollte. Und dann hast du sie aus dem Zimmer geschleift. Du bist ganz schön kräftig, was?«

      »Es war nötig«, murmelte Levi.

      »Ist dir unangenehm, darüber zu sprechen?«

      »Ja.«

      »Warum?«

      »Weil ich meine Mutter nicht verletzen wollte. Ich wollte ihr helfen.«