Levi. Melanie Meier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Melanie Meier
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754146910
Скачать книгу

      »Deine Mutter möchte nur wissen, woher du wusstest, dass die Decke herunterkommt.«

      »Ich habe es gesehen.«

      Kurzes Schweigen.

      »Hat sich der Putz schon gelöst? War es das, was du gesehen hast?«

      Levi schüttelte den Kopf.

      »Was tust du in deiner Freizeit gern, Levi?«

      Überrascht über den Themenwechsel, sah Levi auf. Der Arzt hatte stahlgraue Augen.

       Er sah ihn über ein Waschbecken gebeugt. Neben ihm lag eine leere Pillendose. Der Arzt war weggetreten. Hinter ihm auf dem Boden saß eine nackte Frau, die auch berauscht aussah. Sie grinste und kratzte mit ihren Fingernägeln über den Boden. Ihr Haar war nass.

      »Nehmen Sie die Tabletten nicht«, sagte Levi. »Die machen Sie krank. Und die schöne Frau auch. Sie wird zu viele nehmen und sterben, und Sie werden sich das nie verzeihen.«

      Jetzt dauerte das Schweigen länger. Im Gesicht des Arztes stand Entsetzen. Levi hörte, wie sich seine Mutter bewegte.

      »Das meine ich!«, sagte sie. »Plötzlich sagt er solche Sachen zu den Leuten!«

      Der Arzt wandte sich ab. Er tippte etwas in seinen Computer und schaute auf den Monitor. »Da müssen wir etwas unternehmen. Ich gebe Ihnen eine Überweisung mit. Gehen Sie mit ihm zu einem Psychiater.«

      »Was glauben Sie, was das ist?«

      Der Arzt sah seine Mutter ernst an. »Ich will keine voreilige Diagnose stellen, aber ich will auch ehrlich sein. Es könnte etwas schlimmer sein als erwartet.«

      »Inwiefern?«

      Jetzt richteten sich die stahlgrauen Augen doch wieder auf Levi. »Warum hast du das zu mir gesagt, Junge?«

      Levi schwieg.

      »Sehen Sie, er will dazu nichts sagen. Man muss erst einmal eine Vertrauensbasis aufbauen, um herausfinden zu können, was in ihm vorgeht. Darum rate ich Ihnen, zu einem Psychiater zu gehen und dort eine Therapie zu beginnen. Im Laufe der Zeit wird sich zeigen, wie krank Ihr Sohn ist.«

      »Ich bin gesund«, sagte Levi.

      »Wie ist Ihre erste Einschätzung?«, fragte seine Mutter.

      Der Arzt holte tief Luft. »Basierend auf dem, was Sie mir geschildert haben, und aufgrund seiner Behauptung, er sehe Dinge, die nicht da sind, tippe ich auf etwas in Richtung Schizophrenie. Machen Sie sich darauf gefasst. Aber er ist noch jung, und mit der entsprechenden Medikation und Therapie kann man das bestimmt in den Griff bekommen.«

      Levi drehte sich auf dem Stuhl um. »Mama, ich bin nicht krank. Wirklich nicht. Alles, was ich sehe, ist da. Es passiert wirklich. Hör nicht auf diesen Arzt. Er nimmt Tabletten und hat Angst, weil ich es weiß.«

      »Bist du jetzt still!«, sagte seine Mutter. Sie stand auf. »Entschuldigen Sie. Es tut mir leid, dass er so etwas sagt.«

      Der Arzt erhob sich ebenfalls. Seine Wangen waren gerötet. »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Aber ich muss Sie jetzt bitten zu gehen. Ich habe weitere Termine. Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Ohne Levi anzusehen, verabschiedete er sie an der Tür.

      Im Auto liefen ihm die Tränen über die Wangen. Immer wieder versuchte er, seiner Mutter begreiflich zu machen, dass er nicht krank war, doch seine Mutter verbat ihm den Mund. Sie sah selbst aus, als könnte sie jeden Moment zu weinen anfangen.

      Sie fuhren zu Tante Hilda, und dort setzte ihn seine Mutter in ein kleines Zimmer, in dem er seine Kleidung in eine Kommode räumen sollte. Während Levi das tat, konnte er hören, wie seine Mutter schluchzte und Hilda tröstend auf sie einredete.

      06.05.1996

      »Was weißt du über deinen Vater?«, fragte die Psychiaterin bei ihrer dritten Sitzung. Sie saß steif in ihrem Stuhl.

      Levi saß zurückgelehnt in seinem Stuhl ihr gegenüber. Er sagte nichts.

      »Deine Mutter hat mir erzählt, dass du ihn nicht kennst und dass sie dir nichts von ihm erzählt hat. Das stelle ich mir traurig vor. Interessiert es dich nicht, wer er ist?«

      »Mama sagt, dass er kurz vor meiner Geburt ging.«

      »Bist du deshalb traurig?«

      Er sah die Frau an. »Er hat Mama und mich bestimmt bald vergessen.«

      »Das kann sein. Aber meine Frage ist, ob dich das traurig macht.«

      »Wären Sie traurig?«

      »Bestimmt.«

      »Dann nehmen Sie doch Ihre Antwort. Sie werden eh zu meiner Mutter sagen, dass ich krank bin, ganz egal, was ich Ihnen sage.«

      Sie lächelte. »Ich werde sagen, was ich für die Wahrheit halte. Wir alle wollen dir nur helfen, Levi.«

      »Die Wahrheit ist für jeden anders. Sie kennen meine doch gar nicht. Wenn Sie mir helfen wollen, dann sagen Sie meiner Mutter, dass ich gesund bin, damit ich wieder nach Hause gehen kann.«

      »So einfach ist das leider nicht.« Sie lächelte wieder. »Dass du diese Dinge siehst, von denen mir deine Mutter erzählt hat, ist nicht schlimm. Wenn wir zusammen herausfinden, wie das genau bei dir ist, können wir dir helfen, damit es aufhört. Und dann bist du ein ganz normaler Junge wie alle anderen auch. Das möchten wir erreichen, Levi, und dafür brauche ich deine Hilfe.«

      »Ich bin ein ganz normaler Junge.«

      »Siehst du denn Dinge, die andere nicht sehen?«

      »Ich weiß nicht, was andere sehen. Ich kann nicht die ganze Welt danach fragen.«

      »Siehst du Sachen, die beispielsweise deine Mutter nicht sieht?«

      »Meine Mutter sieht viel nicht. Sie hat nicht gesehen, dass mich der Mann, den sie zuletzt als Freund hatte, beim Schlafen und Duschen beobachtet hat. Sie hat es erst gesehen, als ich es ihr gesagt habe.«

      »War das so?«

      »Ja.«

      »Hat er dir etwas getan, dieser Mann?«

      »Nein. Ich habe ihm gesagt, dass ich es weiß, und dann ist er gegangen und nicht wiedergekommen.«

      »Wie hat deine Mutter darauf reagiert?«

      Levi senkte den Kopf und schwieg.

      »Du kannst mit deiner Mutter nicht darüber sprechen, richtig? Erzähl mir, wie es war, als dir dieser Mann zugesehen hat.«

      »Davon kann ich nicht erzählen. Ich habe ihn nicht gesehen, denn entweder schlief ich oder ich duschte.«

      »Woher wusstest du dann, dass er dir zusieht?«

      Levi erwiderte ihren Blick schweigend.

      »Hast du ihn vielleicht doch einmal dabei erwischt?«

      »Nein. Er war sehr vorsichtig.«

      Die Psychiaterin wartete. Levi sah ihr in die graugrünen Augen.

       Sie lag im Bett, ein Tuch um den Kopf gewickelt. Ihre Haut war weiß und runzelig. Sie war sehr dünn. Obwohl sie bei Bewusstsein war, schien es, als schliefe sie mit offenen Augen. Ihre Lippen waren aufgesprungen.

      »Sie sollten Ihr Blut untersuchen lassen«, sagte er. »Sie haben eine Krankheit.«

      Schweigen. Die Psychiaterin blinzelte mehrmals hinter ihrer Brille.

      »Hast du das jetzt gerade gesehen?«

      Levi nickte langsam. »Ihr Blut. Es ist Ihr Blut.«

      Die Frau wurde bleich. Sie legte den Stift auf den Tisch, mit dem sie immer spielte, nahm die Brille ab und putzte die Gläser.

      »Es ist kein Brustkrebs. Das stimmt nicht.«

      Sie wurde noch bleicher. »Woher …« Sie sah ihn ohne Brille lange an.