»… oder die Täterin, würde Krieger jetzt sagen«, unterbrach ihn Anja.
Englmair lachte. »Stimmt. Vermutlich kannte er also den Täter oder die Täterin und war mit ihm oder ihr in der Kirche verabredet.«
»Was uns wieder zu meiner Visitenkarte mit dem Datum und der Uhrzeit dieser Verabredung zurückbringt«, sagte Anja und seufzte. »Aber mal ganz ehrlich, wieso hätte ich sie und die Bibel mit meinem Namen zurücklassen sollen, wenn ich Pfarrer Hartmann, aus welchem Grund auch immer, tatsächlich umgebracht hätte?«
Weil du so betrunken warst, dass du einen Filmriss hattest und gar nicht mehr klar denken konntest, gab sie sich selbst die offensichtlichste Antwort.
»Vielleicht will dir jemand etwas anhängen«, mutmaßte hingegen Englmair, der zum Glück nur einen Teil der Wahrheit kannte und nur deshalb noch immer davon ausging, seine Kollegin wäre unschuldig.
Schön wär’s, dachte Anja, der dieser Gedanke ebenfalls schon gekommen war. Er klang im Hinblick auf die Bibel und die Visitenkarte auch einleuchtend, wäre da nicht der vermeintliche Albtraum gewesen, in dem ihr Unterbewusstsein einen Teil ihrer Erinnerungen zurückgeholt hatte, auf die sie wegen des Filmrisses nicht mehr bewusst zurückgreifen konnte. Die beiden Indizien erweckten zwar auf den ersten Blick den Eindruck, sie könnten bewusst am Tatort platziert worden sein und als wollte ihr tatsächlich jemand einen Mord anhängen. Aber in dem Fall hätte sie keine albtraumhaften Erinnerungen an den Mord haben dürfen. Und es hätte auch keine Blutstropfen auf ihrem Kapuzenpulli und ihren Laufschuhen geben können.
Trotz dieser Gedanken nickte sie. »Du hast recht«, bestärkte sie ihren Kollegen in seinem Glauben. »Wahrscheinlich will mir jemand den Mord anhängen und hat die Visitenkarte und die Bibel ganz bewusst in der Kirche zurückgelassen, um mich mit der Tat in Zusammenhang zu bringen. Aber warum sollte jemand so etwas tun?«
»Vielleicht bist du in der Vergangenheit irgendjemandem auf den Schlips getreten, der seitdem einen Groll gegen dich hegt. Irgendeine Ahnung, wer dafür in Frage kommen könnte?«
Anja tat, als würde sie über seine Frage nachdenken. Dann schüttelte sie verneinend den Kopf.
III
Fünf Minuten später saß sie wieder an ihrem eigenen Schreibtisch, starrte blicklos aus dem Fenster und war in Gedanken versunken.
Sie hatte sehr wohl eine Ahnung, wer ihr einen Mord anhängen könnte. Es war allerdings beileibe nicht die einzige Lüge gewesen, die sie Englmair erzählt hatte.
Anja dachte natürlich an den mysteriösen Komplizen ihres ehemaligen Wohnungsnachbarn, der diesen in seinem apokalyptischen Wahn bestärkt und bei den Morden an drei todkranken Frauen unterstützt hatte. Außerdem hatte er ihren Ehemann erdrosselt und es wie eine nahezu exakte Kopie des vermeintlichen Suizids ihres Vaters aussehen lassen.
Als die beiden Mordermittler und Anja Fabians Haus durchsuchten, fand Anja seine Leiche im Arbeitszimmer, wo er tot am Haken der Deckenlampe hing. Es war nahezu dieselbe Situation wie dreiundzwanzig Jahre zuvor, als Anja den erhängten Leichnam ihres Vaters entdeckt hatte. Der Unbekannte wollte Anja damit gezielt treffen, indem er die Ähnlichkeit zwischen den beiden Ereignissen bewusst inszeniert hatte. Zuerst ihr Vater und dann auch noch ihr Ehemann; und Anja hatte keinen von beiden retten können, sondern war beide Male zu spät gekommen und hatte nur noch ihre Leichen gefunden.
Doch das heimtückische Spiel des Mannes im Hintergrund fand damit kein Ende, sondern ging noch weiter. Der Apokalypse-Killer, der sich den Namen Johannes gegeben hatte, entführte Anjas Cousine, um sie in der Leichenhalle auf dem neuen Teil des Waldfriedhofs zu töten und als vierten und letzten apokalyptischen Reiter zu inszenieren. Er sollte auf Geheiß seines Komplizen dabei so tun, als hätte Anja eine reelle Chance, ihre Cousine zu retten. In Wahrheit sollte sie jedoch erneut zu spät kommen. Wenn sie ein drittes Mal nur noch die Leiche eines geliebten Menschen fand, so das Kalkül des Hintermannes, müsste sie daran zerbrechen. Und dann würde sie auch endlich die Schlaftabletten schlucken, die sie schon so lange in ihrem Spiegelschrank aufbewahrte und jedes Mal in die Hand nahm, nachdem sie davon geträumt hatte, wie sie damals ihren toten Vater gefunden hatte.
Allerdings gelang es Anja, Johannes und seinen geheimnisvollen Helfer zu überlisten. In einem erbittert geführten Kampf auf Leben und Tod schaffte sie es schließlich, den Killer zu töten und ihre Cousine und sich zu retten. Als sie allerdings zwei Tage später zum Grab ihres Vaters auf dem Waldfriedhof ging, entdeckte sie dort einen Umschlag mit ihrem Namen. Er ähnelte den Kuverts, die sie nach den Morden an den vermissten todkranken Frauen von Johannes bekommen hatte. Allerdings war dieser tot, sodass die Nachricht nur von einem Komplizen stammen konnte, von dem die Polizei bislang nichts wusste. Der Umschlag enthielt lediglich ein altes Polaroidfoto. Auf diesem war ihr Vater so zu sehen, wie sie ihn damals gefunden hatte. Allerdings hatte er auf der Aufnahme die Augen offen, starrte mit panischem Blick in die Kamera und war noch am Leben. Und auf der Rückseite der Fotografie standen die sieben Worte, die Anja damals gesagt hatte, als sie ihren Vater erkannt hatte und noch davon ausgegangen war, er wäre am Leben.
Du bist ja doch zu Hause, Papa.
Das Foto machte Anja mehrere Dinge gleichzeitig bewusst.
Erstens hatte der Apokalypse-Killer einen Komplizen gehabt, dessen Identität unbekannt und der weiterhin aktiv war.
Zweitens hatte ihr Vater gar nicht Selbstmord verübt, wie sie und alle anderen die ganze Zeit über geglaubt hatten, sondern war ermordet worden. Und zwar von jemandem, der nun, nach all den Jahren zurückgekehrt war, um mit Johannes’ Hilfe seine perfiden Pläne mit Anja in die Tat umzusetzen und sie in den Selbstmord zu treiben. Wieso er das tat, wusste sie allerdings noch immer nicht.
Und drittens und letztens wurde Anja beim Anblick der schrecklichen Polaroidaufnahme mit Entsetzen klar, dass der Mörder damals noch im Haus gewesen war und ihre Worte gehört hatte. Noch immer erschauderte sie, wenn sie nur daran dachte.
Nach der Entdeckung des Umschlags mit dem Foto am Grab ihres Vaters hatte Anja in den darauffolgenden Tagen und Wochen darauf gewartet, dass sich sein und Fabians Mörder erneut bei ihr meldete. Sie war während dieser Zeit extrem nervös und schreckhaft gewesen, hatte immer wieder über die Schulter geblickt und sich umgesehen, ob ihr jemand folgte, sie heimlich beobachtete oder sich einfach nur auffällig verhielt. Doch nie war ihr etwas aufgefallen. Deshalb hatte sie sich allmählich wieder entspannt und war zu der Ansicht gelangt, dass der Unbekannte wieder aus ihrem Leben verschwunden war, nachdem sein Plan nicht aufgegangen war.
Doch Englmairs Frage, ob sie eine Ahnung hätte, wer ihr einen Mord anhängen wollte, hatte dazu geführt, dass Anja jetzt zwangsläufig wieder an den geheimnisvollen Unbekannten denken musste.
Es sähe ihm ähnlich, erneut seine Spielchen mit ihr treiben zu wollen, indem er ihr einen Mord in die Schuhe schob, den sie nicht begangen hatte.
Allerdings sprachen sämtliche Beweise in diesem Fall eine andere Sprache und ließen nur eine einzige vernünftige Schlussfolgerung zu: Sie hatte Pfarrer Hartmann tatsächlich ermordet!
IV
Sie schreckte aus ihren Überlegungen, als ihr Handy den Eingang einer Mitteilung signalisierte. Sie nahm es vom Schreibtisch, wo sie es abgelegt hatte, und sah, dass Konstantin ihr eine WhatsApp-Nachricht geschickt hatte.
Der Gedanke an ihn lenkte sie für den Moment von ihren düsteren Überlegungen ab und ließ sie unwillkürlich lächeln. Allerdings