Die Grundausrüstung für so einen Bruch hatte er ohnehin dabei. Also – jetzt oder nie. Kein Kopfkino aufkommen lassen. Das verunsichert nur. Nicht nachdenken, handeln. So hämmerte man es ihm damals in der Ausbildung ein. Mut zur Tat oder sein lassen. Er musste. Er musste jetzt handeln, um hier wegzukommen.
Der Bruch ging recht schnell. Wie er es gelernt hat, versuchte er es an der Heckklappe. Die Verriegelung war bei den älteren Modellen noch mit einem weiteren Seil zur Sicherheit, quasi als Noteinstieg, gesichert. Das war den meisten Besitzern nicht bekannt; auch weil die Hersteller es natürlich in einem kleinen Versteck im unteren Rahmenbereich nicht sichtbar und zugänglich gemacht haben. Für ihn kein Problem; er brach das Gehäuse mit seinem Besteck auf und suchte das Seil. Ein kurzer Ruck und die Heckklappe gab nach. Hat doch prima geklappt. Jetzt muss er den Ford nur noch kurzschließen und hoffen, dass die Karre voll genug betankt war.
Irgendetwas irritierte ihn.
Er schaute.
Er schaute nochmal und stellte ziemlich erstaunt fest, dass der Ford hinten zumindest ein polnisches Nummernschild angeschraubt war. Mach ich hier alles falsch? Das geht überhaupt nicht. Ausländische Autos, so hatte er bei der Übernahme des Auftrags gelernt, werden vorzugsweise von der deutschen Polizei überprüft. Deshalb waren die Fluchtfahrzeuge ja auch mit deutschen Kennzeichen ausgestattet.
So ein Mist!
Los, denke nach. Du musst klar denken. Lass dir was einfallen. Er kannte die Motivationstechniken, die viel Kraft verlangten und immer dann zum Einsatz kamen, wenn die Lage hoffnungslos war. Seinem Eindruck, nach zu urteilen, war es eher komisch, aber nicht langweilig. Denke nach, sonst schaffst du hier nicht raus. Zu Fuß wird’s nicht gehen. Es ist viel zu weit bis zur Grenze. Niemand würde helfen. Jeder, den er nach etwas Essen und eine warme Unterkunft bitte würde, alarmiert mit Sicherheit die Polizei. Und in Erdlöchern übernachten, dazu war er weder motiviert, noch hatte er dazu die richtigen Klamotten an. Darauf ist er heute einfach nicht eingerichtet, das muss man doch verstehen – oder nicht?
Wo ist der Plan?
Wie kann es funktionieren, wenn er keinen Derartigen hatte? Zunächst: Mit polnischen Nummernschildern kommt er nicht. Ein zweites Auto aufbrechen? Wäre eine Option, ist aber auch ein Risiko. Er könnte auf einen Zug ausweichen, der ihn zur Grenze bringt. Mit den Kontrolleuren würde er schon fertig werden. Dunkel erinnerte er sich an eine eindringliche Warnung seiner Auftraggeber: Überwachungskameras. Somit fielen jeder Bahnhof und damit die Option ‚Zug‘ aus. Fahrrad? Für die rund 70 Kilometer bräuchte er gut drei bis vier Stunden, bei normaler Fahrt. Aber nachts, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, mit Sicherheit das Doppelte. Außerdem würde ein Fahrradfahrer ohne Licht im nasskalten November prinzipiell verdächtig wirken. Fällt auch aus. Einen dieser Transporter hier? Die lassen sich auch recht leicht knacken; das weiß er aus Erfahrung – wenn nicht er, wer denn sonst. Viel zu auffällig: Es ist Wochenende, da haben selbst die Leiharbeiter mit den Transportern frei und saufen – natürlich in ihren schäbigen Unterkünften.
Bleibt also doch das Auto als die für ihn als sicherste Variante, um aus Vesberg rauszukommen. Aber nicht mit polnischen Kennzeichen. Ok, der Reihe nach – ganz ruhig, du hast es gelernt. Nur anwenden, handeln – nicht mehr. Schon gar nicht denken, nachdenken und zweifeln.
Kein Kopfkino.
Erst muss er rein, ins Auto und die Überbrückung hinbekommen. Wenn es sich starten lässt, muss er den Füllstand des Tanks prüfen. Mit einer zu geringen Restmenge darin braucht er mit diesem Auto keine weiteren Risiken eingehen. Dann muss er alle Lichter checken. Die Deutschen nehmen es damit sehr genau; in den Wintermonaten hält die Polizei alle Autos mit defektem Licht an. Selbst wenn nur eine Lampe schräg eingesetzt ist und blendet, gibt’s dafür einen Strafzettel. Typisch, die Deutschen. Bin ich froh, dass ich in Moldawien lebe. Hier wäre das nichts für mich. Jetzt braucht er erst mal deutsche Nummernschilder. Die gibt es hier zuhauf. Kein Problem für ihn; leichte Übung, das bekommt er hin.
Sein Plan!
Bevor er sich wieder unterm Auto hervor wand, spähte er erst einmal 360 Grad rundherum. Kein Fußgänger, auch kein Raucher an irgendeinem Fenster oder ein Hündchen, welches sein Frauchen oder Herrchen durch den nassen und kalten Abend führt. Sieht alles sehr gut und ruhig aus. Also hoch und rein ins Auto. Ganz gekonnt schlängelte er sich an der Rückseite hoch und schwang sich in den Kofferraum. Der Kofferdeckel blieb leicht angelehnt; einerseits als Sichtschlitz nach außen und andererseits als möglicher Fluchtweg. Als Aufklärer weiß er es ganz genau: Begebe dich nie in eine Situation, für die du keinen Plan B hast.
Niemals!
Im Kofferraum orientierte er sich erst einmal. Ruhe und Besonnenheit sind immer gute Ratgeber, um keine Fehler zu machen. Er ertastete etwas Kaltes im Inneren, konnte damit aber nichts anfangen und beachtete es nicht weiter. Mit ein paar Handgriffen, für ihn einfach und unendlich viele Male geprobt, konnte er die Verriegelung der asymmetrischen Rückbank lösen, dann die Rückenlehne umklappen und sich ins Wageninnere hangeln. Leichte Aufwärmübungen eines Aufklärers; genauso sportlich nahm er es.
Drinnen orientierte er sich erst mal und wagte einen Rundumblick nach draußen. Nicht, dass inzwischen jemand sich in der Nähe des Autos befand und sein Treiben beobachtete. Alles ruhig. Jetzt muss es schnell gehen. Bevor er die Kabel hinter dem Zündschloss suchte, stellte er schon mal den Sitz und den Spiegel so ein, dass er gleich nach dem Start wegfahren konnte. Tür auf, runter an den Kabelschacht und sich die richtigen Drähte geschnappt. Mit seinem Universalwerkzeug überhaupt kein Problem. Bevor er sich zum Kurzschluss entschloss, warf er nochmal einen Blick in die Umgebung. Er musste sicher gehen, dass er unbemerkt das Auto startete, da von da an bis zum Losfahren die gefährlichste Zeit ist. Jeder der etwas beobachten könnte, würde den Diebstahl bemerken und die Bullen verständigen. Sicherheitshalber schaute er sich im Auto nochmal um; nein, nichts Auffälliges.
Er öffnete das Handschuhfach, prüfte den Inhalt. Seine Finger erstarrten als seine Augen erkannten, dass die Schrift auf den paar Papierfetzen im Fach Deutsch war. Hier sind doch polnische Nummernschilder dran.
Oh nein!
Bitte nicht!
Seine Gedanken erfassten blitzschnell mögliche Szenarien: War das Auto von Deutschen verkauft worden? Oder hatten es polnische Autoknacker geklaut und bereits mit eigenen Nummernschildern umgerüstet? Er erinnerte sich an das kalte Metall im Kofferraum; sprang aus dem Auto und schaute nach: deutsche Nummernschilder. Das Prüfsiegel war noch gültig und nicht zerstört. Das war alles nicht gut; es beschlichen ihn düstere Ahnungen. Aber ein Weg zurückkam für ihn jetzt nicht mehr in Frage: Starten und nichts wie weg hier. Die Schilder müsste er später tauschen; nicht vergessen!
Das Überbrücken klappte wunderbar und schon stöhnte der Motor auf. Hauptsache er schafft es bis zur Grenze. Da würde er die Karre ohnehin stehen lassen und wird zu Fuß nach alter Aufklärer Art in Richtung Polen verschwinden.
Türen zu, Licht an; noch mal raus und prüfen, ob alle Lampen funktionieren. Er will keinen noch so kleinen Vorwand liefern, um angehalten zu werden. Alles los jetzt. Allerdings kam ihm jetzt in den Sinn, dass er sich einen viel zu komplizierten Rückweg aus dieser Seitenstraße aussuchte. Wird er alt? Scheinbar, denn sonst wäre er nicht so blöd gewesen, und hätte sich ein Auto von der anderen Straßenseite ausgesucht. Eines, mit dem er ohne Wendemanöver aus dieser Sackgasse hätte verduften können. Viel zu viel Zeit würde das Wenden kosten.
Trotzdem,