Am Automaten angekommen, ließ eine brühend-heiße, dunkelbraun eingefärbte Flüssigkeit in einen Becher laufen, die nach Meinung der Automatenhersteller Kaffee sein sollte. Wenn Kaffee helfen soll, die Müdigkeit zu vertreiben, so weiß Remsen, dass er spätestens nach zwei von diesen Bechern hier Herzrasen mit aufgerissenen Augen bekommt. Deshalb versucht er meistens, diesen hier zu meiden. Aber jetzt am Sonnabendabend gab hier keine Alternativen, in der Zentrale vielleicht noch, doch bis dahin wollte er nicht… Und besser war die Brühe dort auch gerade, so seine Erfahrungen.
„Hier sind die Fotos der Überwachungskameras vom Grenzübergang. Exakt um 21:07 Uhr gestern Abend passierte Weilham jun. mit einer jungen Begleiterin und dem Audi VES CW 500 die Grenze und reiste nach Deutschland ein. Wir haben Fotos aus einschlägigen sozialen Netzwerken im Internet von ihm gefunden und mit diesen hier abgeglichen: Kein Zweifel: Carsten Weilham war da drin und jetzt tot.“
Jutta Kundoban war die erste aus dem Team, die zu ihm stieß, jedoch aus guten Gründen keinen Bedarf an Kaffee mehr hatte. Nöthe und die beiden Reservisten trafen inzwischen auch am Automaten ein; alle drei mit jeder Menge Unterlagen unterm Arm.
„Wir nehmen den Tisch da.“ Remsen deutete auf eine Besprechungsecke und steuerte darauf zu. „Dr. Ansbaum hat das auch schon festgestellt und Eva Weilham brach zusammen, als ich ihr das Foto ihres toten Mannes zeigte.“
„Jan, waren Sie mal wieder so einfühlsam wie der berühmte Holzklotz?“ Kundoban wusste einerseits, dass das Überbringen von Todesnachrichten auch ihr nicht leicht fiel, aber andererseits, dass Remsen nach dem „Jetzt-oder-Nie-Verfahren“ die Betroffenen einfach mit der Tatsache konfrontierte und abwartete was danach passiert. Wenn es irgendwie ging, dann überließ sie immer einem anderen ihrer Kollegen diesen Job.
„Haben wir inzwischen irgendwelche Anhaltspunkte, wer die Tote auf dem Beifahrersitz sein könnte?“
Da alle am Tisch mit dem Kopf schüttelten, war klar, dass sie in dieser Angelegenheit dringend mehr Informationen bräuchten. Möglichst schnell, möglichst viele.
„Herr Nöthe, was hat Ihnen die Frau Weilham erzählt?“ Bevor der junge Mann einschläft, wecken und befragen wir ihn doch mal. Remsen war angespannt und erwartete von seinem Team, dass alle sich ebenso in die Ermittlungen reinhängen. So wie er es vorlebte.
Benjamin Nöthe schaute etwas unsicher: „Naja, nicht so viel Verwertbares. Sie sprach von ihrem Mann, dem Herzinfarkt Anfang des Jahres und von der vielen Arbeit bei CodeWriter. Sie meinte, dass ihr Mann wohl schon ziemlich lange mit dem Partner bei CodeWriter, Karl Hausmann, im Clinch lag, unterschiedliche Auffassungen zur Firmenführung und zur weiteren Entwicklung hatten, aber auch, dass nach dem Zusammenbruch die Rangfolge bei CodeWriter geklärt sei. Etwas süffisant, eher abwertend betonte sie das.“
„Ja und, das war’s? Mehr nicht?“
„Sonnabends geht der alte Weilham immer seine eigenen Wege. Sie weiß wohl nur, dass er mit sich alleine sein will, viel Sport macht, immer sein Rad dabei hat. Meistens ist er zur Sportschau wieder zurück.“
„Okay, das kennen wir alles. Was meinte sie dazu früher? Vor CodeWriter? Vor der Vereinigung? Wie haben sie sich kennengelernt?“
„Da war sie sehr zugeknöpft. Hat an der Universität gearbeitet und lebt seit einiger Zeit zurückgezogen. Sie verbringt wohl viel Zeit mit ihrer Schwiegertochter und dem Enkel. Von Konflikten oder so erzählte sie nichts. Habe wirklich einige Male nachgefragt. Wie mir schien, ist sie mit sich und der Situation recht zufrieden; oder hat sich arrangiert – wie man’s nimmt.“
„Partei? Stasi? War da was?“ Musste Remsen dem jungen Assistenten alles einzeln aus der Nase ziehen? Er kam sich wie ein HNO-Arzt vor; nur wollte er nicht mit der Zange ...
„Von einer Parteikarriere war nicht die Rede, aber das lasse ich überprüfen.“ Nöthe deutete auf einen der beiden Verstärker im Team, der den Hinweis nur bestätigte. „Sie hat sich eher kritisch zur Situation vor der Vereinigung geäußert. Ich glaube nicht, dass sie mit den Diktatoren gemeinsame Sache gemacht hat.“
„Wie lange sind die beiden eigentlich schon zusammen, ein Paar?“ Jutta Kundoban, eine Frau, pragmatisch und scharfsinnig. Die Frage kam von ihr, nicht ganz ohne Hintergedanken, denn heutzutage ist es fast schon unanständig, wenn eine einmal eingegangene Beziehung ewig hält.
„Keine Ahnung, auch das sollten wir rausbekommen.“ Der Assistent vom Assistenten machte sich dazu einige Notizen.
Kundoban sah jetzt Remsen an: „Hat denn Georg Weilham oder die Eva Weilham nichts dazu gesagt, mit wem Weilham jun. unterwegs war?“ Der Angesprochene zuckte nur mit der Schulter und verneinte die Frage. Er konzentrierte sich auf die Frage, von woher Weilham gestern Abend wieder zurückkam.
„Bekommen wir von polnischer Seite Informationen, wo er überhaupt war? Die müssen doch auch eine Autobahnüberwachung haben; bei so vielen Fördergeldern, wie die von der EU bekommen. Es muss doch rauszubekommen sein, ob sein Auto gesichtet wurde.“
„Jan, du weißt doch, da brauchen wir ein offizielles Amtshilfegesuch, muss von ganz oben genehmigt werden. Jetzt am Sonnabendabend?“
Oh, da war sie wieder, die schlimme Stelle in ihm: „Diesen Sepp muss ich ohnehin heute noch informieren; da kann er gleich mal loslegen und uns helfen.“
„Hat keiner gehört.“ Das war mehr eine Anweisung in Richtung der beiden Unterstützer, dichtzuhalten und Remsens Entgleisung zu vergessen; ist ja immerhin der Chef.
„Gibt’s was Interessantes zu CodeWriter?“
„Eher nicht. Zumindest der erste Eindruck bringt nichts Außergewöhnliches. Die Bilanzen scheinen zu stimmen. Wenig Öffentlichkeitsarbeit von denen. Hausmann ist gelegentlich auf Konferenzen im Sicherheitsbereich unterwegs. Auf einer internationalen Fachmesse der Astrophysiker in Kairo ist er mal von einigen Jahren als Redner aufgetreten. Es ging angeblich um irgendwelche Verfahren für Auswertungen eines Forschungsteams für einen Kometen. CodeWriter entwickelte die Software dazu. Sonst eher nichts Aufregendes.“
Nöthe setzte ein strahlendes Lächeln auf, weil er weiß, dass er bei den Nachforschungen für CodeWriter recht viel beisteuern konnte.
„Machen Sie hier ein Schülerpraktikum oder was?“ Remsen hatte seine eigene, andere Meinung zu den Ergebnissen seines Assistenten. „Sie sollen Unregelmäßigkeiten feststellen. Nur die helfen uns weiter. Da kommt der Junior Chef von einer Dienstreise aus Osteuropa zurück und sie erzählen mir was von einem Astrologenkongress in Kairo.“
„Astrophysiker, Jan.“ Kundoban‘s schlechter, unnützer Versuch, zu schlichten.
„Mir doch egal. Ich brauche Indizien, wer hinter der Tat stecken könnte. Warum und mit welchem Motiv. Hatten die Weilham's Feinde? Oder der Hausmann? Oder alle zusammen? Das will ich wissen und nicht wie die Sterne stehen.“
Bei Remsen stiegen der Unmut und natürlich auch der Puls in ungekannte Höhen. „Verdammt lange dauert mir das. Zu viert wart Ihr dran und dann so was.“
„Ein Grashalm wird auch nicht länger, wenn man daran zieht, Jan.“ Kaum sprach sie dieses, hier und jetzt unselige Zitat aus, wusste sie: Das war blöd von ihr.
„Klar, jetzt liegen die gegrillt bei uns im Büro und alle werden satt davon.“ Grashalme, Thai-Fraß. Remsen schüttelte nur den Kopf und stand auf, um sich einen zweiten Becher dieser Brühe zu genehmigen. Er schlürfte uninspiriert zum Automaten und ließ seine Truppe am Tisch zurück. Einmal Self Pain Soup bitte.
„Remsen.“ Hansi meldete sich auf seinem Handy: „Was gibt’s Neues von der Identifizierung des Toten?“
„Ja – er ist es. Die Alte ist erstaunlich cool geblieben; nur unser Weilham wäre uns beinahe aus den Latschen gekippt. Einmal Herz, immer Herz. Ich lass die beiden jetzt nach Hause fahren.“
„Nein. Frau Weilham kann fahren, aber Georg Weilham bringst du bitte gleich her, am besten in den VR3. Ich erwarte dich dort.“