Mietwagenfirmen machten also das Geschäft mit der geliehenen Mobilität. In Folge waren am Abend die zahlreichen Parkplätze vor den Häusern ausgiebig belegt. Am Morgen jedoch herrschte akute Flaute, der Fluch der Gemeinschaftsgüter, die immer die benutzten, die schneller waren als die anderen. Buslinien verkehrten zwar, aber nur unzuverlässig, was Daniel an diesem Morgen überhaupt nicht half.
Erleichtert stellte er fest, dass beide Fahrzeuge eines lokalen Mietwagenanbieters zur Verfügung standen. Auf der Betreiber-App der Verleihfirma reservierte er sich eines der Fahrzeuge. Jetzt hatte er zehn Minuten Zeit, sich am belegten Auto zu identifizieren. Die Uhr auf dem Display des Smartphones zeigte achtzehn Minuten nach sieben. Bis zum Termin blieb ihm noch fast eine dreiviertel Stunde.
Dieser Stadtteil im Randgebiet der Stadt hatte die vergangenen Jahre weitgehend unbeschadet überstanden. Trotzdem konnte sich jeder, der hier in den letzten Jahrzehnten seine Zeit verbracht hatte, erinnern, dass die Häuser früher nicht in diesem Maße mit Graffitis überzogen und die Straßen mit weniger Müll bedeckt waren. Auch hatten die Fenster in den Erdgeschossen vor Jahren noch keine stabilen Gitter gehabt, die es nächtlich umherziehenden Einbrecherbanden und Gelegenheitsplünderern möglichst schwer machen sollten. Die Kameraüberwachung wies in diesem Stadtteil große Lücken auf, was solche Maßnahmen dringend erforderlich machte. Immerhin aber suchte man hier auf den Bürgersteigen platzierte brennende Mülltonnen und darum herumstehende Typen noch vergebens. In anderen Stadtteilen sah das durchaus anders aus, insbesondere im Norden der Stadt, der schon immer ein besonderer Anziehungspunkt für die sozial Schwächeren gewesen war.
Seit er hier wohnte, war erst einmal in seine Wohnung eingebrochen worden. Die Diebe hatten sich tagsüber ins Treppenhaus geschlichen und dann mehrere Wohnungstüren aufgebrochen. Bei Daniel war nicht viel zu finden gewesen. Als kleines Dankeschön hatten die Einbrecher mitten in seiner Küche einen stinkenden braunen Haufen samt darauf drapierten Toilettenpapier hinterlassen, den Kühlschrank geplündert und die Matratze seines Bettes zerschlitzt. Seitdem sicherten zwei schwere Stahlriegel die Wohnungstür, die sich auf beiden Seiten der Tür in Metallhalterungen in der Wand schoben. Das Besondere an dem System waren die Schließzylinder, die in je einer beweglichen Stahlkugel lagerten, die über ein Kommando vom Smartphone mittels kleiner Elektromotoren um neunzig Grad längs zur Tür gedreht werden konnten. Damit half nicht einmal das Aufbohren der Zylinder etwas. Das System samt Akku hatte mehr als einen Monatslohn verschlungen. Aber bei den weiteren Einbrüchen im Haus war seine Wohnung verschont worden. Mit einem mit schwarzem Filzstift auf die Tür geschriebenen Fuck you, Arschloch! konnte er sehr gut leben. Mit Vandalismus und Ekelhaftem auf dem Fußboden weniger.
Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Schmierereien zu entfernen. Carina hatte seine Erklärung zu dem fantasievollen Graffiti mit einem Schmunzeln zur Kenntnis genommen und sich lieber damit beschäftigt, ihm noch vor der Tür das T-Shirt auszuziehen und seine Hose aufzuknöpfen.
Für die personell knapp ausgestattete Polizei war Streifendienst zur Gefahrenabwehr eine nachrangige Aufgabe geworden, was Daniel oft genug gegenüber den anderen Hausbewohnern argumentieren musste, die wussten, bei welchem Arbeitgeber er vor einigen Monaten noch beschäftigt gewesen war. Aber er konnte nicht mehr für sie machen als ihnen Ratschläge zu geben, wie sie sich gegen das Aufbrechen ihrer eigenen Wohnungstüren schützen konnten.
Daniel stopfte sich den letzten Rest des Brotes in den Mund, legte sich die Commwatch ums Handgelenk, griff nach dem Smartphone und ging zur Küchentür, wobei er mit einem Fuß eine Kiste traf, die unter dem kleinen Esstisch stand. Die Kiste schoss ein Stück weiter und stoppte am Bein eines Stuhls. Mit lautem Klirren fielen ein paar darin abgestellte Flaschen um, die denen in der Kühlschranktür sehr ähnelten. Daniel stockte kurz, schüttelte seinen Kopf und eilte in den Flur. Er würde doch in nächster Zeit seine Wohnung auf Vordermann bringen müssen. Die Spuren seiner ungesunden Lebensweise beseitigen, seinen Kleiderschrank mit gewaschener Wäsche füllen und andere Dinge, die Frauen lieber sahen als leere Whiskyflaschen unterm Tisch und einen Haufen getragener Klamotten auf dem Fußboden. Ein guter Eindruck konnte nicht schaden. Es musste ja nicht gleich für den Rest des Lebens sein, aber für ein paar weitere unbeschreibliche hormonell dominierte Nächte. Für mehr würde er sein Leben noch deutlich mehr in Ordnung bringen müssen. Aktuell die größte Hürde, die sich ihm bot.
Auf der Straße war es ruhig. Zwar hatten die Geschäfte bereits geöffnet, aber nur wenige Leute waren zu dieser frühen Zeit unterwegs. Ein paar Fahrzeuge rollten vorbei. Ein deutliches synthetisches Surren begleitete die Wagen und machte auf sie aufmerksam. Ein paar Lieferdrohnen zogen in mehreren Metern Höhe vorbei.
Daniel überquerte die Straße. Vor den Rent-to-drive Parkplätzen blieb er stehen und gab über die Mietwagenapplikation auf seinem Smartphone eine Bestätigung seiner Reservierung ein. Die Applikation übergab ein Signal, um den sich nahenden Mieter anzumelden. Prompt blinkte auf dem Armaturenbrett des rechten Wagens kurz ein Lichtsignal und zeigte als Antwort die Entsicherung der Türen an.
Daniel stieg in den kleinen Stadtwagen, einen hochbauenden, sehr kurzen Zweisitzer mit kleinem Kofferraum, wie er bevorzugt von Leihfahrzeugfirmen eingesetzt wurde. Er legte sein Smartphone in eine Halterung in der Konsole. Sofort hatte sich das Gerät mit dem Fahrzeug verbunden. Ab diesem Moment wurde die Nutzung des Wagens minutengenau abgerechnet. Auch die Fahrzeugelektronik aktivierte sich. Nun wurden Daniel einige gesetzlich vorgeschriebene Hinweise über alle Risiken der Benutzung eines Wagens auf dem fahrzeugeigenen Display angezeigt, die er ignorierte. Ohne nur eine Zeile zu lesen, tippte er auf den Bestätigungsbutton. Daniel hatte sich schon wiederholt gefragt, welcher Fahrer diese Texte wirklich jemals gelesen hatte.
Ein unangenehmes lautes Piepen wies ihn darauf hin, dass er noch nicht angegurtet war. Kaum rastete das Gurtschloss ein, wurde im Display die Bereitschaft des Antriebs und der Akkus angezeigt. Daniel prüfte die Reichweitenanzeige und nickte zufrieden. Das Fahrzeug musste bereits am Vorabend abgestellt worden sein. Für den Ladevorgang hatte damit genug Zeit zur Verfügung gestanden. Die Leihwagenplätze waren mit Induktionsplatten im Boden bestückt, über die die Akkus der Fahrzeuge kontaktfrei mit Strom geladen wurden. Solche Systeme verhinderten Stromdiebstahl sehr zuverlässig.
Das System meldete sich mit einer freundlichen männlichen Stimme und fragte nach dem Fahrtziel, um eine optimale Route zu ermitteln, vorbei an möglichen Staus, mit geringstmöglichem Energieverbrauch. Abschließend wurde Daniel gefragt, ob er den automatisierten Fahrzeugmodus wünschte, was nichts anderes bedeutete, als dass der Wagen das Lenkrad wegklappen würde, um das Ziel per automatischer Steuerung selbständig anzusteuern. Der kleine Hinweis auf den Preis dieses Service fiel fast beiläufig. Mangels ausreichender Liquidität für solchen Luxus wählte Daniel den Selbstfahrmodus.
Endlich gab die Elektronik das Beschleunigungspedal frei. Daniel steuerte in Richtung Innenstadt. Es waren wenige andere Wagen unterwegs, die meisten davon ebenfalls Mietwagen. Nach wenigen Minuten verließ Daniel den Stadtteil und steuerte auf eine mehrspurige Bundesstraße, die die Stadt in der Mitte teilte. Er passierte an der Auffahrt eine Mautbrücke, die den Wagen registrierte und seine Mietkosten unangenehm nach oben trieb, und erhöhte das Tempo etwas, blieb aber auf der rechten Spur. Mehrere andere Wagen überholten ihn mit geringfügig höherem Tempo, machten aber eilig Platz, als ein paar schwarze SUV mit abgedunkelten Scheiben auf der linken Spur vorbeizogen und dabei eindeutig das geltende Tempolimit und die Kameraüberwachung des Verkehrs missachteten.
Gelangweilt gönnte sich Daniel einen Blick in ein anderes Fahrzeug, in dem er einen langen blonden Haarschopf auszumachen glaubte. Er hatte sich nicht getäuscht. Die Fahrerin des Wagens war ausgesprochen attraktiv und Daniels Blick blieb an ihr haften. Ein paar Momente zu lang. Prompt ertönte ein unangenehm scharfes Pfeifen, dann erklang die Stimme der Fahrzeugsteuerung in einem sehr bestimmenden Basston.
>>Achtung, Aufmerksamkeitsalarm!