>>Nun, ich muss zugeben, ich habe keine Ahnung, wie ich das sinnvoll angehen soll. Ich war Polizist. Ich habe meine Kontakte angesprochen, die Stellenangebote der verschiedenen in Frage kommenden Behörden durchgesehen, aber es war nichts Passendes für mich dabei!<<
Eine Lüge musste zumindest glaubwürdig klingen.
Möglicherweise deutete Frau Wolenski die zu lang geratene Denkpause auch als Verlegenheit über seine Hilflosigkeit. Immerhin war auch er vor ein paar Monaten noch so wie sie bei einer staatlichen Einrichtung angestellt gewesen. Ihr Gesichtsausdruck wurde etwas milder, zumindest um eine kleine Spur. Sie warf einen Blick auf ihren Monitor.
>>In den Angaben, die Sie zu Ihrer Situation gemacht haben, steht, Sie haben eine Knieverletzung, die Sie daran hindert, in den Streifendienst zu gehen. Haben Sie dazu Nachweise?<<
Die Stimme behielt ihre Kälte bei. Durchschaute sie seine letzte Antwort, weil sie so etwas jeden Tag zu hören bekam?
>>Ich hatte Ihnen den Zugriff auf meine Daten bei meiner Krankenversicherung freigegeben. Darin befindet der Befund zu meinem Knie!<<
Frau Wolenski schaute wieder auf ihren Monitor und bewegte ihre Finger bedächtig über den Touchscreen neben ihrer Tastatur. Nach einer sehr langen Minute nickte sie.
>>Ja, ich habe das vorliegen! Das bedeutet für Ihre Übernahme in die Vermittlung leider eine ziemliche Einschränkung!<<
Irgendwo in der Halle begann jemand mit einem starken Akzent laut und unbeherrscht zu schreien und Beleidigungen auszustoßen. Die Flut von Ausdrücken schien nicht enden zu wollen. Das Vokabular wiederholte sich jedoch recht schnell. Dann knallte es laut, wieder und wieder.
Daniel schaute zur Seite und erblickte einen Mann mit fettig glänzenden schwarzen Haaren ein paar Schalter weiter. Er trug eine löchrige Hose und ein etwas zu klein geratenes Hemd. Der Mann schlug mit der flachen Hand wie ein Besessener auf den Bildschirm eines Schalters, während er seine Beschimpfungen fortsetzte. Eindeutig hatte ihn irgendetwas an der Unterhaltung mit seinem Sachbearbeiter sehr aufgeregt. Der Uniformierte lief die Treppe herunter und näherte sich dem Mann von hinten, während der weiter wie von Sinnen mit der Hand auf den Monitor einschlug. Der Uniformierte hielt etwas in der Hand, das er dem Wütenden in den Rücken drückte. Der Mann erstarrte in seiner Bewegung, während ein knisterndes Geräusch seinen Wortschwall ablöste. Es wurde wieder leise. Der Wachmann zog seine Hand zurück und der paralysierte Mann sackte zu Boden.
Frau Wolenski bekam in ihrem Büro von dem Vorfall natürlich nichts mit. Sie räusperte sich laut.
>>Herr Neumann, wenn wir weitermachen könnten, wäre das sehr hilfreich! Ich habe gleich meinen nächsten Kunden.<<
Daniel wandte sich ihr wieder zu, während der Wachmann über sein Headset Unterstützung anforderte.
>>Äh, ja! Entschuldigung! Hatten Sie etwas gefragt?<<
Wieder tauchten die Falten zwischen ihren Augenbrauen auf.
>>Ich sagte, ich habe momentan kein Angebot für Sie. Das, was ich Ihnen anbieten kann, erfordert entweder Qualifikationen, die Sie nicht haben, oder es bedarf eines Bewerbers, der seine Beine ohne Einschränkung benutzen kann.<<
Daniel wischte sich mit einer Hand über die Stirn. In seinem Knie setzte ein leichtes Stechen ein. Eine Sitzmöglichkeit wäre ihm sehr willkommen gewesen. Er entlastete das linke Bein, was Frau Wolenski scheinbar nicht entging. Die Falten auf Ihrer Stirn bekamen eine neue Dynamik und schoben sich nach oben.
>>Was für Stellen wären das denn?<<
Sie machte eine abwehrende Handbewegung.
>>Ein Hausmeisterjob für ein Firmengebäude. Die zu betreuende Fläche beträgt einhundertfünfzigtausend Quadratmeter. Das bedeutet lange Wege und Sie wackeln jetzt schon auf Ihren Beinen herum. Auf einen Müllwagen kann ich Sie auch nicht schicken. Wie wäre es mit Fahrradkurier?<<
Daniel zuckte zusammen.
>>Meinen Sie das ernst?<<
Sie senkte den Kopf und schaute ihn über ihre halbkreisförmigen Gläser an.
>>Sie haben gefragt, Herr Neumann! Schaffen Sie es, den ganzen Tag Fahrrad zu fahren?<<
Er schüttelte den Kopf. Sie nickte ihm gefällig zu.
Ein Stück entfernt griffen zwei Männer in dunkler Bekleidung nach den Beinen des Randalierers und schleiften ihn zum Ausgang. Daniel wagte nur einen kurzen Blick zur Seite.
>>Gut! Ich kann Ihnen also nichts anbieten! Das ist gut für Sie! Ich kann Ihnen aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigung und Ihrer Einstufung aufgrund Ihrer bisherigen Tätigkeit als Angestellter des Landes finanzielle Unterstützung für weitere sechs Monate gewähren. Sie werden unter Berücksichtigung Ihrer körperlichen Einschränkung Arbeitsangebote erhalten. Sie sind verpflichtet, sich bei den Arbeitgebern binnen zwei Werktagen vorzustellen und sich um den jeweiligen Job zu bemühen. Wir erhalten Rückmeldungen der Jobanbieter. Wenn Sie den Eindruck machen, Sie nehmen diese Termine nicht ernst, werden wir Ihnen sofort die staatliche Unterstützung streichen.
Außerdem haben Sie sich selbständig um eine Arbeit zu bemühen. Sie melden uns jede Woche mindestens einen Nachweis darüber, dass Sie bei jemandem vorgesprochen haben. Haben Sie das alles verstanden?<<
Überrascht von diesem Wortschwall nickte Daniel stumm, auch wenn er dem Gehörten nicht zustimmen konnte. Arbeit war, gemessen an der Zahl der Arbeitsuchenden, Mangelware. Arbeitsangebote gab es in überschaubarer Menge, erst recht für Leute wie ihn. Die Bezahlung war wohl noch ein anderes Thema.
>>Gut! Ich habe Ihre Bankdaten. Sie erhalten Ihre erste Zahlung spätestens morgen. Der amtliche Bescheid mit dem Ihnen zugeteilten monatlichen Betrag erhalten Sie noch heute!<<
Sie tippte mit einem Finger auf den Touchscreen und Daniels Smartphone antwortete mit einem Klopfton. Frau Wolenski nickte ihm zu.
>>Das war es für heute! Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag!<<
Daniel war entlassen. Der Bildschirm wurde schwarz. Er verließ mit langsamen Schritten die Halle und hielt draußen für einen Moment an. Die beiden Männer, die den Randalierer aus der Halle gezogen hatten, waren gerade damit beschäftigt, ihn in einen Kastenwagen zu setzen. Er hatte nach dem Einsatz des Elektroschockers nur bedingt Kontrolle über seinen Körper. Beim Versuch, sich auf die Rückbank des Wagens zu setzen, kippte er zur Seite und stotterte etwas Unverständliches.
Die beiden Männer warfen die Tür hinter ihm zu und setzten sich nach vorne in den Wagen mit dem Firmenlogo eines Sicherheitsdienstes. Er beschleunigte mit leisem Surren und entfernte sich in Richtung der Stadtabsperrung. Die Regeln innerhalb des gesicherten Bereichs waren ziemlich einfach. Die Sicherheitsdienste hatten absolutes Hausrecht. Wer ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, wurde mindestens aus der Sicherheitszone hinausgeworfen.
Der Mann mit den fettigen Haaren und der löcherigen Hose hatte vermutlich wie Daniel einen Termin gehabt, um staatliche Unterstützung zu erhalten. Seiner Reaktion nach war sie ihm nicht mehr gewährt worden. Darauf kam es nicht mehr an. Er würde vom Sicherheitsdienst zur Zufahrt gebracht und auf der anderen Seite der Absperrung abgeladen werden. Man würde seine Personalien aufnehmen und ihm gegenüber vermutlich ein mehrere Monate dauerndes Zutrittsverbot zum gesicherten Stadtbereich aussprechen. Sollte er es trotzdem wagen, die Zugänge zu passieren oder auf einem anderen nicht erlaubten Weg in diesen Bereich einzudringen, würde die Kameraüberwachung sofort Bilder von ihm erfassen und die Gesichtserkennungssoftware in der Überwachungszentrale sehr schnell einen Sucherfolg anzeigen. Die Folge eines solchen nicht Beachtens eines Zugangsverbots war eine Haftstrafe, immerhin in einer staatlichen Justizvollzugsanstalt in einem kleinen Zimmer, in das niemand einbrach, bei ausreichender Versorgung mit Essen und einer Menge Ruhe.