Sie sollte Recht behalten, denn lange musste sie nicht suchen. Sie fand die beiden in einem kleinen Straßencafé. Sie saßen an eine antike Hauswand gelehnt, Kullmann rauchte Pfeife und las Zeitung. Martha häkelte. Vor ihnen standen Tassen mit dampfendem Kaffee.
Sie setzte sich dazu. „So lässt es sich leben.“
„Anke, Lisa, wie schön euch zu sehen“, grüßte Kullmann.
Lisa schlief tief und fest. Sie bekam nichts mit.
„Du hast schon Farbe bekommen“, stellte Martha fest. „Das steht dir gut, wo du sonst immer so blass bist.“
Anke erzählte ihnen von ihrem schönen Tag am Strand, worauf Kullmann bemerkte: „Du wirkst so fröhlich, wie ich dich schon lange nicht mehr erlebt habe. Das gibt mir das Gefühl, dass dieser Urlaub eine gute Wahl für dich war.“
„Natürlich war es das“, stellte Anke sofort klar. „Oder hattest du Zweifel daran?“
„Nach dem Zusammenstoß mit dem Berliner Ehepaar hatte ich die in der Tat.“
Schlagartig erinnerte sich Anke an ihre Beobachtung.
„Denkst du wieder an deine Verfolgungsjagd?“, fragte Kullmann schmunzelnd. Doch Ankes Reaktion auf seine Frage gab ihm zu denken. „Was ist los?“
„Ach nichts. Ist nicht wichtig.“
„So wie du dreinschaust, ist es dir aber wichtig.“
Anke schaute Kullmann nachdenklich an und kam zu der Überzeugung, ihm alles zu berichten. Nachdem sie geendet hatte, kehrte das Schmunzeln in Kullmanns Gesicht zurück, womit Anke nicht gerechnet hatte.
„Du siehst Gespenster. Hoffentlich reicht diese eine Woche, um dich von der Verbrechensbekämpfung abzulenken.“
Anke fügte nachdrücklich an: „Der Kroate hat ein Messer gezückt.“
„Das passiert schon mal in südlichen Ländern. Hier herrscht ein anderes Temperament.“ Damit war für Kullmann das Thema erledigt.
Lange beobachteten sie die Menschen, die an ihnen vorüberzogen. Möwen flogen über die Dächer. Ihr lautes Kreischen schallte zwischen den Hauswänden.
„Wollen wir uns noch ein wenig ausruhen, bevor wir essen gehen?“, fragte Kullmann, während er einen Blick auf die schlafende Lisa warf.
„Essen wir nicht im Hotel?“ Anke staunte.
„Dort gibt es heute Abend nur Pizza.“
„Wo ist das Problem?“
„Ich esse dieses Zeug nicht“, gab Kullmann zu verstehen. „Martha und ich haben uns am Hafen umgesehen. Dort gibt es schöne Lokale mit Blick auf das Meer und die Schiffe. Ich habe die Karten studiert und mir ein Restaurant herausgesucht, wo neben Fisch auch Fleischgerichte angeboten werden. Ich hoffe, du bist mit meiner Wahl einverstanden.“
„Ich verlasse mich auf deinen guten Geschmack“, stimmte Anke zu. „Bisher hast du mich nicht enttäuscht.“
Das Lob nahm Kullmann stolz zur Kenntnis.
Sie schlenderten durch die engen Gässchen zurück zum Hotel. Lisa wachte in ihrem Buggy nicht auf, obwohl der durch das Kopfsteinpflaster durchgeschüttelt wurde. So müde war sie. Kaum im Hotelzimmer angekommen, fühlte sich auch Anke wie erschlagen. Sie legte sich auf das Bett und schlief augenblicklich ein.
Vom Schrei der Möwen wurde sie geweckt. Es war ein Geräusch, das sie seit ihrer Ankunft in Rovinj begleitete. Ihr Kreischen, das nach einem lang gezogenen Seufzer in ein abgehacktes Lachen überging, gehörte zum Meer, wie die Fische, die darin schwammen. Anke konnte sich daran erfreuen, es bestätigte ihr das Gefühl der Fremdartigkeit. Zu Hause hörte sie nur die Geräusche von Autos und gelegentlich das unschöne Gurren von Tauben.
Sie stellte sich ans Fenster. Schon spürte sie, wie sich jemand neben sie schob. Lisa. Auch sie war aufgewacht und sah munter aus. Ihre beiden Ärmchen streckte sie nach oben, ein deutliches Zeichen, dass sie hochgehoben werden wollte.
Anke kam ihrer Aufforderung nach.
Kullmann und Martha traten hinzu.
Zu viert schauten sie hinaus, bewunderten das Meerwasser, auf dem die Sonnenstrahlen tanzten. Kleine Fischerboote fuhren hinaus, große Yachten liefen den Hafen an. Möwen flogen dicht über der Wasseroberfläche auf der Jagd nach Fischen. Einige Segelboote versuchten noch, die letzten Windböen zu erwischen. Sie versanken in dem Anblick von Regsamkeit auf dem Meer.
„Wollen wir auf der Dachterrasse noch einen Aperitif trinken?“, schlug Kullmann vor.
„Gute Idee.
Sie verließen das Zimmer und stiegen die Treppe nach oben. Agnes Gebauer und ihre Freundin Gertrud Ossom saßen bereits dort mit ihren Ehegatten und nippten an bunten Cocktails. Die anderen Tische gähnten leer. Anke ging voraus, ihr folgte Kullmann. Sie hatten beide den gleichen Tisch im Visier, nämlich den, der ihnen die schönste Aussicht bot. Plötzlich bemerkte Anke, dass Lisa verschwunden war. Gleichzeitig sah sich Kullmann nach Martha um. Erschrocken drehten sich beide um und sahen gerade noch, wie Martha mit Lisa auf dem Arm die Treppe, die sie eben erst hinaufgestiegen waren, wieder hinuntereilte. Anke wollte fragen, was das zu bedeuten hatte. Da erkannte sie den Grund für Marthas übereilte Flucht.
Aus der kleinen Sonnenecke, die für Sonnenanbeter extra auf der Terrasse eingerichtet worden war, trat der Berliner hervor.
Splitternackt.
Genüsslich streckte er seinen Bauch hervor, reckte beide Arme in die Höhe und gähnte mit weit aufgerissenem Mund. Ein Aufschrei ertönte vom Tisch der beiden älteren Ehepaare, was den Berliner keineswegs aus der Ruhe brachte.
Anke war fassungslos.
„Natürlich ist jetzt niemand vom Hotelpersonal da“, rief Agnes Gebauer empört. „Dieses Schwein sollte man aus dem Hotel rausschmeißen.“
„Recht hast du“, stimmte Gertrud Ossom ihrer Freundin bei. „Hier ist für Exhibitionisten kein Platz.“
„Ikke glaub, ik hör nicht richtig“, lachte Manfred Deubler. „Exi… wad noch mal? Du hast zu viel Krimis in der Glotze jesehen, wa?“
Kullmann richtete sich an den Berliner: „Was soll dieses hemmungslose Auftreten? Können Sie sich nicht benehmen, wie ein normaler Mensch und Ihre Scham bedecken?“
„Wad soll ded Gekeife? Wir warn schon hier, da hat nach euch Angebern noch keener wad jefraacht“, rieb er sich demonstrativ über seinen Bauch. „Hier jehört Nacktbaden zum guten Ton. Also lasse ikke mir ded von euch nischt vermiesen.“
„Richtig, mei Kleener“, trat nun die kleine Berlinerin hinzu. „Wir können hier machen, wad uns passt. Ded war schon immer so, dazu haben wir die von drüben noch nie jebrocht.“
„Hier sind kleine Kinder“, versuchte es Kullmann anders. „Ist Ihnen überhaupt klar, was Sie mit dem Verhalten anrichten?“
„Lass den doch jnatzen“, mischte sich die Berlinerin ein. „Der kann mir net vollsabbern, der Fatzke. Wir ham keene Jören – also kann es uns ja egal sein.“
Das Paar verließ die Terrasse.
„Unfassbar.“, schrie Gertrud Ossom aufgebracht.
„Die sollte man ins Meer werfen und ertränken“; fügte Arthur Ossom an.
Erschrocken schaute Anke ihn an. Er war kein alter Mann, wie sie es zunächst als selbstverständlich angenommen hatte. Er war wesentlich jünger als seine Frau, seine Statur groß