„He, ihr da“, rief die Berlinerin. „Holt den Balg da wech. Ikke kann sonst für nischt garantieren.“
Kullmann war derjenige, der blitzschnell aufstand, Lisa auf den Arm nahm und murrte: „Was Ihre Sicherheit angeht, kann ich auch bald für nichts mehr garantieren.“
Aber die kleine Frau ließ sich durch so etwas nicht aus der Ruhe bringen. Sofort kam eine Erwiderung: „Eh Alter. Mit so was wie dir muss ikke mich nischt herumzuschlagen. Behalt deine Moralpredigten einfach bei dir.“
Kullmanns Kopf wurde hochrot. „Im Osten hatten Sie vierzig Jahre nichts zu fressen und jetzt spielen Sie hier den Großkotz auf unsere Kosten.“
Anke staunte. So aufgebracht hatte sie ihn noch nicht erlebt.
„Det lass‘ ikke mir von dir nisch sagen…“
„Für Sie immer noch SIE“, parierte Kullmann.
Damit gelang es ihm, dass Adele Deubler vor Staunen den Mund nicht mehr schließen konnte.
„Ich denke, wir schauen uns ein bisschen im Hafen um“, schlug Kullmann vor. Seine Gesichtsfarbe verriet, dass er sich aufregte.
Rasch verließen sie die Terrasse und das Hotel.
Schmale Gassen mit Kopfsteinpflaster - Zeitzeugen aus einer früheren Epoche boten sich vor ihren Augen. Die Hauswände bestanden aus massivem Stein, die Fenster waren klein und mit Klappläden geschmückt. Manche Fassaden stachen mit auffallenden Farben hervor. Dazwischen lagen immer wieder verwitterte und vernachlässigte Gebäude, deren Eingänge nur dürftig verschlossen waren. Kullmann und Anke warfen hin und wieder einen neugieren Blick hinein, konnten jedoch nur Chaos und Schmutz dahinter sehen.
Sie verließen die Gassen und gelangten zum Hafen.
Leicht bekleidete Touristen belagerten die Promenade, die Cafés, die Restaurants. Die Stimmung war ausgelassen. Das Gemurmel erfüllte den großen Platz.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, die Sonne verlor an Kraft, die Temperaturen sanken, das Klima wurde angenehm. Das Tageslicht begann zu schwinden. Erstaunt schaute Anke auf die Uhr.
„Im Süden sind die Tage kürzer als bei uns“, erklärte Kullmann daraufhin.
„Du kennst dich gut aus, dafür, dass du noch nie im Süden warst“, stellte Anke anerkennend fest.
„Wer lesen kann, ist klar im Vorteil“, gab Kullmann zurück. Er schaute auf die Uhr und stellte fest: „Wir haben gerade mal eine halbe Stunde Zeit, uns umzusehen, dann müssen wir ins Hotel zurückkehren. Das Einführungsbüffet, das der Hotelier uns bei der Ankunft angekündigt hatte, dürfen wir nicht verpassen.“
Plötzlich sah Anke ihre Tochter Lisa auf das Ufer zusteuern – wie sie dem Wasser mit erstaunlicher Geschwindigkeit immer näherkam.
Blitzschnell setzte sie sich in Bewegung.
Ein fremder Mann kam ihr zuvor. Mit Leichtigkeit fing er Lisa ab, hielt sie in die Höhe und machte einige Umdrehungen mit ihr. Anke dachte, dass Lisa sofort anfangen würde zu schreien, weil sie den Mann nicht kannte. Aber nichts dergleichen geschah. Lisa lachte.
Was hatte das zu bedeuten?
Anke beobachtete den Fremden mit ansteigender Wut. Er setzte ihre Tochter nicht sofort wieder auf den Boden, wie man das annehmen sollte. Stattdessen wirbelte er sie solange, bis Anke neben ihm stand und sagte: „Ich glaube, Sie hatten jetzt lange genug das Vergnügen mit meiner Tochter.“
Verdutzt setzte der Mann Lisa ab.
„Entschuldigung.“ Er sprach also deutsch. „Ich liebe Kinder. Da habe ich wohl übertrieben – ohne es zu wollen.“
Anke schaute in ein interessantes Gesicht. Dunkle Haare, dunkle Augen, gebräunte Haut. Seine Offenheit imponierte ihr. Er erwiderte ihren Blick. Nicht das geringste Anzeichen von Falschheit konnte Anke darin erkennen.
Ohne ein Wort zu entgegnen, schaute sie ihn sich genauer an. Er trug eine enge Jeanshose und ein sommerliches Hemd. Seine Figur wirkte sportlich. Seine Füße steckten in Badeschuhen, wie sie hier jeder trug.
„Ich heiße Alexander“, stellte er sich vor.
„Anke“, fand sie ihre Sprache wieder.
„Ihr Dialekt klingt interessant. Wo kommen Sie her?“
„Aus dem Saarland.“
„Dafür sprechen Sie aber gut deutsch.“
Damit gelang es ihm, Ankes Misstrauen zu zerstreuen. Mit einem herzhaften Lachanfall honorierte sie seine Feststellung. Auf sein verdutztes Gesicht erklärte sie: „Das Saarland ist seit fünfzig Jahren deutsch. Deshalb.“
Alexander nickte zerknirscht und meinte: „In der Gegend kenne ich mich nicht so gut aus.“
„Klar. Wir sind der äußerste Zipfel Deutschlands.“
„Sind Sie gerade erst angekommen?“
„Sieht man das?“
„Ja. Sie sind so blass.“
Er hatte Recht, wie Anke schnell feststellen konnte. Alle Menschen, die sich hier auf dem großen Platz tummelten, waren braun gebrannt. Unter ihnen waren Neuankömmlinge schnell auszumachen.
Er ließ seinen Blick durch die Menschenmenge wandern, bevor er wieder an Anke hängen blieb. „Wissen Sie schon, wo Sie heute Abend essen wollen?“
Mit seinen dunklen Augen schaute er sie erwartungsvoll an. Als keine Reaktion von ihr kam, fügte er schnell an: „Ich kenne mich hier aus – weiß wo es gute Lokale gibt.“
Plötzlich tauchte Kullmann neben Anke auf. Er erinnerte sie an etwas, was sie im Laufe ihres angeregten Gesprächs fast vergessen hätte: „Wir haben uns für das Büffet im Hotel angemeldet. Denk bitte daran.“
Sofort war Anke wieder klar im Kopf.
Lisa, die unentwegt zwischen Kullmann, Martha und Anke hin und her hüpfte, schaffte es, dass Anke sich besann, ihre ursprünglichen Gedanken verbannte und zu Alexander sagte: „Sie haben es ja gerade gehört. Wir essen im Hotel.“
„Schade. Sehen wir uns wieder?“
Anke hatte sich gerade von ihm weggedreht, ihre Tochter an der Hand genommen, als sie zu ihm zurücksah und meinte: „Bestimmt. Wir bleiben noch länger hier.“
„Was haltet ihr davon, wenn ich euch morgen einen schönen Strand zeige? Dort ist Sonne und Schatten, das Meer ist nicht tief und man hat eine schöne Sicht auf die Stadt Rovinj.“
Kullmann schüttelte den Kopf und erklärte Anke: „Martha und ich werden sicherlich nicht an den Strand gehen. Aber für dich und Lisa ist das genau das Richtige. Die Kleine braucht Abwechslung.“
Das fasste Anke als Aufmunterung auf. Sie verabredete sich mit Alexander für den nächsten Tag am Hafen.
Kapitel 3
Die „Villa Angelo D’oro“ bewies, dass die fünf Sterne verdient waren, die die Bronzeplakette an der Außenfassade des Hotels anpries. Das Speisezimmer bewahrte ein Ambiente von gelassenem, würdevollem Luxus. Die Einrichtung bestand aus einer Mischung zwischen modern und klassisch. Der Boden war mit bunt gewebten Teppichen ausgelegt, die Stühle mit grauem Samt überzogen, die Tische mit bestickten Tischdecken gedeckt. Die Wände stachen als nacktes Mauerwerk hervor, was dem Ganzen noch zusätzlich einen rustikalen Anstrich verlieh. Das hintere Ende begrenzte eine Glastür, die auf den Hinterhof zeigte, eingerahmt von üppigen Grünpflanzen und mit Sonnenschirmen überdacht. Auf Kullmanns sehnsüchtigen Blick meinte der junge Kellner: „Büffet servieren wir nur im Saal. Das Essen à la Carte können Sie jeden Abend auf der Terrasse