Der Zorn der Hexe. Lars Burkart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lars Burkart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754180617
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Wir leiden noch immer darunter, dass dieses zänkische Weib alles und jeden hasste.“

      „Das sind doch alles nur Geschichten, die man sich abends am Lagerfeuer erzählt! Die sind doch von vorn bis hinten an den Haaren herbeigezogen. Und jeder, der sie erzählt, schmückt sie dann etwas aus mit seiner eigenen Phantasie.“

      „Ich wünschte, es wäre so. Oh ja, das wünsche ich mir wirklich von Herzen“, seufzte er.

      „Was sollte es sonst sein? Was? Ich kann’s dir verraten: Es ist genau das und nichts anderes.“

      Sie war überzeugt, dass es nur so sein konnte – so und nicht anders. Doch seine Augen sprachen eine andere Sprache, und irgendwie bereute sie es immer mehr, so hartnäckig auf der Wahrheit bestanden zu haben.

      „Es ist schwer zu glauben. Ich weiß. Aber es ist der Fluch unserer Familie. Seit nunmehr fünfhundert Jahren.“

      Plötzlich flammte eine Erkenntnis in ihr auf. So makaber es auch klang: Ihr Vater erlaubte sich einen Scherz mit ihr. Er wollte sie auf den Arm nehmen, sie necken und sie mal so richtig aufs Glatteis schicken. Sie hatte keine Zweifel mehr, oh ja, ihr Vater wollte ihr eins auswischen, er wollte sie so richtig verarschen. Aber nicht mit mir, mein Lieber! In die Grube, die du da angelegt hast, werde ich nicht fallen! Diesmal nicht!

      „Woher willst du das eigentlich alles wissen? Schließlich hast du ja selbst gesagt, dass das bereits ein halbes Jahrtausend zurückliegt. In dieser Zeit kann viel passieren, das brauche ich dir nicht zu sagen. Woher also nimmst du diese … äh, Informationen?“

      „Folge mir bitte.“

      „Was?“

      „Folge mir einfach.“

      „Wohin gehen wir?“

      „Du wirst schon sehen. Komm einfach mit.“

      Sie verließen den Raum, und Sabine dackelte hinter ihrem Vater her. Sie hatte beschlossen das Spiel mitzuspielen, denn dafür hielt sie es, für ein abgefucktes Spiel. Doch sie würde schon bald den Spieß umdrehen und ihn dann so richtig veräppeln. Sie musste sich nur gedulden, bis sie ihre Chance witterte. Und bis dahin hieß es, weiter den Tölpel zu mimen, damit der Alte sich in Sicherheit glaubte.

      Sie liefen durch das ganze Haus und schließlich in den Keller hinunter. Hier unten war es angenehm kühl. Im Sommer, wenn die Sonne brütend heiß vom Himmel brannte, war es hier gut auszuhalten. Früher war geerntetes Obst hier unten aufbewahrt worden, doch das war Geschichte. Damit ließ sich kaum noch Geld verdienen, aber der Duft der Früchte lag noch immer in der Luft, als wäre er in die Wände und den Lehmboden imprägniert.

      Sabine verstand überhaupt nichts mehr. Was wollten sie bitteschön im Keller? Hier gab es doch nur noch Spinnweben, Unmengen an Staub und Ratten, igitt! Sie war noch nicht allzu oft hier unten gewesen. Aber das war bei dem ganzen Getier, das man hier antraf, ja auch kein Wunder.

      Allmählich wurde ihr das Spiel zu bunt, und sie wollte schon fragen, was sie hier zu finden hofften. Doch die Frage blieb ihr im Halse stecken, als sie in das Gesicht ihres Vaters blickte. In den letzten paar Minuten schien es noch einmal um tausend Jahre gealtert zu sein. Er war blasser als eine Leiche, bleich und ausgemergelt, sein Körper zitterte wie ein Blatt im Herbstwind, und sein Atem roch vergammelt, fast modrig.

      Also, ich muss schon sagen, für seinen Scherz hat er sich wirklich allerhand einfallen lassen! Bin gespannt, was er noch alles aus dem Hut zieht! Die Frage war nur: Glaubte sie das wirklich noch? War sie noch immer der Überzeugung, es handle sich nur um einen Scherz?

      Egal, wie ihr Vater aussah: Er hatte noch genug Kraft, um auf ein paar Mauersteine zu drücken. Also konnte es nicht ganz so schlecht um seine körperliche Verfassung stehen. Er tat es scheinbar aufs Geratewohl. Sabine, die das Ganze skeptisch beäugte, wollte schon fragen, was der ganze Zirkus eigentlich sollte, als sie merkte, dass die Steine nachgaben. Sie gaben tatsächlich nach, etwa einen Zentimeter. Auch jetzt wollte sie etwas sagen, es brannte ihr regelrecht auf der Zunge, doch sie war zu fasziniert, um auch nur ein Wort herauszubringen. Ihr Vater drückte jetzt noch ein paar Steine, immer noch scheinbar wahllos und ohne erkennbare Ordnung. Was hatte er vor? Auch diese Steine versanken knapp einen Zentimeter im Mauerwerk.

      Irgendwann hielt er inne. Er war so erschöpft, dass er nur noch flach atmete. Wieder wollte Sabine den Mund öffnen, als es plötzlich im Mauerwerk zu arbeiten begann. Es dröhnte und rumorte, und dann knarrte es wie zu Mitternacht im Spukschloss. Die Geräusche wurden immer lauter; dann aber waren sie so schnell verschwunden wie sie begonnen hatten. Die unerwartete Stille schmerzte fast in den Ohren.

      Und dann sprang hinter ihr eine Tür auf. Einfach so, ohne Vorankündigung – das Knarren, Rumoren und Dröhnen konnte man ja nicht als eine solche deuten. Sabine erschrak so, dass sie wie ein aufgescheuchtes Karnickel zur Seite sprang. Normalerweise wären ihr Vater und sie in schallendes Gelächter ausgebrochen, doch sie war zu erschrocken, und als sie in seine Richtung sah (wer weiß, vielleicht konnte er ja nun nicht mehr an sich halten und würde endlich losbrüllen vor Lachen?), blieb ihr jeglicher Kommentar im Halse stecken: Ihr Vater war nun nicht mehr nur aschfahl. Er war bleich wie eine Wachsfigur. Als würde er …

      Woran konnte das nur lieg …

      Ihre Neugier verlangte, sich die Tür genauer anzusehen. Die Wand war mit Paneelen bekleidet und darin, zwischen den Brettern, war die Tür perfekt eingepasst. Dort, wo sich normalerweise ein Brett ins danebenliegende einschob, war die Tür. Und da sie vom Boden bis zur Decke reichte, war von ihr nichts zu sehen gewesen. Sie benötigte auch keine Klinke, sondern wurde mit den Steinen an der Wand geöffnet. Einfach im Aufbau, aber grandios in der Wirkung.

      Jetzt wies ihr Vater sie an, einzutreten – das tat sie dann auch, allerdings so vorsichtig wie ein Soldat, der ein Minenfeld betritt. Ihr Vater folgte geduldig. Er war so nah hinter ihr, dass sie seinen fauligen Atem roch. Offensichtlich war er schon öfter hier unten gewesen, denn gerade in diesem Moment hörte sie in der Dunkelheit, wie er zielsicher nach einem Lichtschalter tastete. Es dauerte nicht lange, und flackernd wurde es hell.

      Nun konnte sie das geheime Zimmer, das sich hier verbarg, sehen. Vor Überraschung verschlug es ihr den Atem. Es war alles in allem vielleicht fünfundzwanzig Quadratmeter groß und wirkte eher zweckmäßig – auf absurde Weise. In der Mitte stand ein Schreibtisch, auf dem staubige Schriftstücke lagen. An den weißen Wänden standen Regale, die ebenfalls Akten enthielten. Seltsamerweise wirkte der Raum gepflegter als der Rest des Kellers. Sogar der Boden war gefliest – allerdings war es unschwer zu erkennen, dass hier kein Fachmann gearbeitet hatte. Was ja auch logisch war: Wozu brauchte man einen geheimen Keller, wenn jeder Handwerker davon wusste?

      Sie ging in den Raum hinein, und nun bemerkte sie etwas Interessantes: Die Akten und Schriftstücke waren nicht verstaubt, wie man es erwarten konnte. Sie waren nur alt. Sehr, sehr alt.

      „Das, was du hier unten siehst, ist die Chronik unserer Familie. Hier findest du so gut wie alles, was sich vom zwölften Jahrhundert an zugetragen hat. Gute wie auch schlechte Dinge sind in den Papieren verzeichnet.“

      Sabine konnte nicht anders. Sie fühlte beim Anblick von mehr als achthundert Jahren Familiengeschichte Ehrfurcht.

      „Und hier findest du auch den Beweis für das, was ich sagte.“

      „Es ist so unheimlich viel …“

      „Ich weiß. Du kannst alles lesen. Es ist alles in unserer Schrift geschrieben.“

      „Wie …?“

      „Jedes Mal, wenn die Schrift sich änderte, sie also einer Reform unterzogen wurde, brachte einer unserer Ahnen das ganze Archiv auf den neuesten Stand. Eine langwierige und mühsame Arbeit, wie du dir sicher vorstellen kannst.“

      „Wie ist es möglich, dass wir so unglaublich viele Akten über unsere Familie haben? Bei anderen ist es doch auch nicht so!“

      „Wie du weißt, sind wir recht vermögend. Während andere weder lesen noch schreiben konnten, lernten es die Kinder in unserer Familie schon von früh auf. Wenn andere auf den Feldern schuften mussten, hatten die unseren ein sorgenfreies Leben.