Der Zorn der Hexe. Lars Burkart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lars Burkart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754180617
Скачать книгу
du bist es mir schuldig. Du musst es mir einfach sagen. Ich verlange, dass du es mir sagst! Auch wenn es schrecklich ist, du musst es mir sagen! Du musst einfach!“

      Ihre Stimme klang wie eine Kreissäge, die sich mühsam durch steinhartes Holz fräst. Sie kreischte, aber nicht so, wie man es tut, wenn man etwas will, es aber nicht bekommt, sondern wie jemand, der kurz vor einem apokalyptischen Wutausbruch steht. Das Kreischen bewirkte, dass ihr Vater noch mehr in sich zusammensackte, so sehr, dass er jetzt nicht einmal mehr der Gesteinssplitter eines winzigen Meteoriten war. Es fehlte nicht viel, und er hätte sich in Luft aufgelöst, wäre verglüht wie eine Sternschnuppe beim Eintritt in die Atmosphäre. Ist doch echt erstaunlich, was eine Stimme so alles bewirken kann.

      Doch auf Sabine macht all das keinen Eindruck. Sie beschloss, auch weiter alles zu riskieren. Bis jetzt lief es gut. Sie musste nur weiter ihren Standpunkt vertreten und ihn irgendwie durchboxen. Dann würde alles zu ihrer Zufriedenheit ablaufen.

      „Du musst es mir sagen! Du musst! Du musst! Du musst! Ich verlange es!“

      „Aber Kind, versteh doch …“

      „Ich verstehe, dass du es mir vorzuenthalten versuchst! Das verstehe ich sogar gut! Leider verstehe ich auch, dass du mich noch immer für ein kleines, unwissendes Kind hältst!“ In ihren Augen blitzte Zorn.

      „Das tue ich doch gar nicht. Wie kannst du so etwas nur denken? Ich bin doch … ich kann …“

      „Ich verspreche dir, dass du es mir sagen wirst. Koste es, was es wolle. Diesmal bleibe ich hart, steinhart, wenn es sein muss!“

      „Aber, so hör mir doch mal zu. Es ist nicht so einfach. Und glaube mir: Du würdest dieses Wissen nur verfluchen.“

      „Ach was, so schlimm wird es schon nicht sein!“

      „O doch, das ist es. Und aus eben diesem Grund …“

      „… muss ich es erfahren“, fiel sie ihm ins Wort. „Wenn es wirklich so schlimm ist, wie du sagst und es unsere Familie und somit auch mich betrifft, muss ich es wissen!“

      „Aber Kind …“

      „Lass endlich dieses dämliche ‘aber Kind’!“

      Sie äffte ihn nach. Und obwohl sie schon vorher wütend gewesen war, steigerte sich ihre Wut in dem Moment, als sie es noch einmal aus ihrem eigenen Mund hörte, noch mehr. Sie fühlte, wie das Blut kochend heiß durch ihre Adern rauschte und Magensäure ihr bis hinauf in die Kehle stieg. Sie spürte die Anspannung auf ihrer Haut kribbeln wie Elektrizität. Und ihr Herz schlug so laut, als säße es nicht mehr in ihrer Brust, sondern zwischen ihren Ohren. Alles in ihr wartete auf eine Antwort.

      „So hör doch …“ Das war nun ganz und gar nicht das, was sie erhofft hatte.

      „Ich will von diesen Ausreden nichts mehr hören! Sag es mir endlich!“

      Er hatte seine Tochter noch nie so aufgebracht gesehen, noch nie so wütend und unbeherrscht. Sie strotzte geradezu vor Verbissenheit. Alles an ihr strahlte pure, unverdünnte Angriffslust aus. Er fürchtete, dass ein einziger Funke genügen würde und sie ginge wie eine Dynamitkiste hoch.

      Leider, und das musste er sich eingestehen, verstand er ihre Reaktion. Er hätte, wäre er an ihrer Stelle gewesen, genauso reagiert. Es war nicht nur eine bodenlose Gemeinheit, ihr die Wahrheit vorzuenthalten, es war auch eine Beleidigung ihrer Intelligenz. Hatte sie nicht ein Recht darauf, es zu erfahren? Ja, gewiss, das hatte sie. Aber es war so schrecklich. Und allein das war schon Grund genug, ihr nichts davon zu sagen. Doch früher oder später würde sie es ohnehin erfahren. Irgendwann würde er es ihr nicht mehr vorenthalten können …

      An dieser Stelle hielt er inne mit seinem inneren Disput. Die Stimme seines Gewissens, mit der er so heftig focht, hatte einen wunden Punkt berührt. Doch nicht nur das: Sie hatte auch verdammt recht. Er war sicher, dass Sabine es irgendwann ohnehin herausfand, auf die eine oder andere Art (ihm war es ja schließlich auch gelungen) – spätestens jedoch, wenn das unerfreuliche Ereignis eintrat. Und jetzt fragte sein Gewissen mit einer Stimme, die ihm eine Gänsehaut bescherte: War nicht schon ein Teil geschehen? Hatte es nicht bereits begonnen? Denk nur an …

      Er unterbrach die Stimme in seinem Inneren mitten im Wort. Nichtsdestotrotz konnte er es nicht unterbinden, über das eben Gehörte nachzudenken. Obwohl er schon oft bis zu diesem Punkt gekommen war, war es ihm immer wieder gelungen, zu schweigen. War das ein Fehler gewesen? Schließlich musste sie doch darauf vorbereitet sein. Oder etwa nicht?

      Aber vielleicht passierte es ja gar nicht. Vielleicht übersprang es diese Generation und alles bleibt, wie es ist. Obwohl so viele schreckliche Dinge geschehen waren, so viel Schmerz erduldet worden war, schaffte es noch immer ein kleiner Teil seines Verstandes, an dieser mageren Hoffnung festzuhalten. Er pflichtete dieser Stimme sofort bei. Wer weiß, vielleicht hatte sie ja recht! Gehofft hätte er es allemal. Aber die Stimme seiner Vernunft war anderer Meinung. Du alter Narr, schimpfte sie, wie kannst du, nach allem was geschehen ist, tatsächlich noch an so was glauben? Es ernsthaft in Erwägung ziehen? Wie kann man nur so blöd sein? Es wird kommen, das steht fest! Die ersten giftigen Zeichen sind ja schon da. Denk doch nur an …

      Ja, ja, schon gut, ich hab’s ja verstanden, schrie er der Stimme in Gedanken entgegen, noch bevor sie ihren Satz beenden konnte. Augenblicklich verstummte sie wie ein ungezogenes Kind. Er war verdammt froh, dass endlich wieder Ruhe in seinem Oberstübchen herrschte.

      Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf seine Tochter und war überrascht, dass sie noch immer wie ein Tasmanischer Teufel durchs Zimmer tobte und Zeter und Mordio schrie.

      „Du musst es mir sagen! Du musst! Du musst!“

      Sie hatte also noch immer keine neue Platte aufgelegt. Eine seltsame Ruhe überkam ihn. Sie bemächtigte sich seiner wie eine unerwartete Tröstung und bewirkte, dass er sich endlich wieder etwas größer fühlte. Nicht mehr so winzig wie vorhin, als er gefürchtet hatte, in den Ritzen des Schaukelstuhles zu versinken. Je mehr ihn von dieser Ruhe durchströmte, umso größer kam er sich vor.

      Sabine donnerte noch immer wie eine Diesellok, aber das war längst nicht mehr so einschüchternd. Natürlich hatte ihm seine Phantasie einen Streich gespielt. Selbstverständlich war er nicht geschrumpft, um keinen Millimeter. Aber es war ihm so vorgekommen. Es war höchst real gewesen, und es hatte ihn geängstigt. Gott sei Dank war es vorbei. Er kam sich nicht mehr wie ein Sandkorn vor, sondern wie ein Mann. Mit Augen, die seit Jahren nicht mehr so klar gewesen waren, sah er seine Tochter an. Sie war so schön, dass es ihm fast in den Augen schmerzte. Aber konnte man sich auf diese Empfindung verlassen? Findet nicht jeder Vater seine Tochter wunderschön? Ist sie nicht für ihn immer die Schönste unter der Sonne?

      „Okay, ich sag es dir.“

      „Was? Du machst was?“

      Diesmal blieb ihr die Spucke weg. Sie hatte gebetet, hatte gefaucht wie eine Raubkatze, hatte gefleht, gebettelt und schließlich sogar mit dem Gedanken geliebäugelt, aus dem Haus zu gehen und nie wiederzukommen. Dann hätte der alte Trottel endlich gesehen, was er von seiner Sturheit hatte! Aber eigentlich hatte sie die Hoffnung schon aufgegeben. Das wäre durchaus keine Niederlage gewesen. Oh nein, sie hätte vielleicht die Schlacht verloren, aber der Krieg war noch nicht entschieden. Doch wie es jetzt aussah, brauchte sie vielleicht doch nicht mehr allzu lange zu warten.

      „Ich werde es dir sagen“, wiederholte er, während sie ihn noch immer ungläubig anstarrte. „Es ist besser, du würdest dich setzen. Und vielleicht solltest du dir vorher einen Drink mixen. Einen starken. Du wirst es brauchen.“

      Während er ihr das ans Herz legte, veränderte sich sein Gesicht. Es war nicht mehr das Gesicht eines Siebzigjährigen, sondern vielmehr eines Hundertsiebzigjährigen – freilich nur, wenn der Mensch so alt werden könnte. Es war von Altersflecken nur so übersäht, und die Falten in seiner Haut schienen die Größe des Grand Canyons zu haben. Trübsinnig starrten seine Augen auf einen Punkt irgendwo im Zimmer. Er wusste selbst nicht, warum er das tat. Er hätte genauso gut einen Staubfusel beobachten können, es hätte keinen Unterschied gemacht.

      Sabine