Der Zorn der Hexe. Lars Burkart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lars Burkart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754180617
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schließlich noch eine.

      Sabine räusperte sich, und erst jetzt bemerkte ihr Vater, dass sie nicht gegangen war.

      „Ähm … ist sonst noch irgendwas?“

      „Warum? Wie kommst du darauf?“

      „Oh, ganz einfach. Weil du wie ein Ölgötze hier rumstehst und Maulaffen feil hältst! Das sieht dir gar nicht ähnlich. Also, heraus mit der Sprache: Was bedrückt dich?“

      Sabine grinste. Hatte sie das wirklich getan? Davon hatte sie gar nichts mitgekriegt.

      „Nun ja …“, begann sie, aber das war auch schon alles.

      „Was du nicht sagst! Dann ist ja alles klar“, spottete ihr Vater. Kein feiner Zug von ihm, aber so war er nun mal. Das ist durch Prügel nicht mehr zu korrigieren, ging es ihr durch den Kopf, aber bei dem Gedanken, sie würde hinter ihrem alten Herrn her wetzen, einen Gürtel in der Hand, musste sie grinsen.

      „Als ich eben auf dem Heimweg war, fiel mir ein, dass du mir mal was erzählen wolltest. Es hatte irgendwas mit unserer Familie zu tun. Ich glaube, es war zu der Zeit, als ich meine Fehlgeburt hatte. Ja, ich glaube, da war es“, bestätigte sie es sich selbst und fuhr dann fort: „Bis eben hatte ich es total vergessen. Wahrscheinlich hatte ich den Kopf mit anderen Dingen voll (ach was, sprach da ihre innere Stimme, du hast doch bloß den Tod deiner ungeborenen Tochter und den ihres Vaters betrauert! Im Großen und Ganzen also nichts Besonderes, wie? Hahahaha). Wie dem auch sei: Jedenfalls dachte ich mir, wenn es meine Familie betrifft, geht es auch mich was an. Das ergibt sich zwangsläufig, findest du nicht auch?“

      Während sie sprach, wurde das Gesicht ihres Vaters immer leerer und ausdrucksloser, fast schon erschreckend. Im Gegensatz zu ihr konnte er sich an die Situation im Krankenzimmer gut erinnern. Viel zu gut. Wie so oft hatte sein Mund schneller gearbeitet als sein Gehirn; es war ihm einfach so rausgerutscht. Am liebsten hätte er es rückgängig gemacht. Er war damals in einer deprimierten Stimmung gewesen und nach all diesen Tragödien so sentimental und rührselig, dass er sein altes Schandmaul nicht im Zaum hatte halten können. Doch kaum, dass er ihr Zimmer verlassen hatte, hatte er sich einen alten Tölpel geschimpft. Vielleicht, dachte er damals, rieselt mir doch schon Kalk durch die Adern. Und als dann Sabine entlassen wurde, kam sie nicht mehr darauf zu sprechen; sie musste mit anderen Dingen fertigwerden. Es erleichterte ihn ungemein, doch gleichzeitig fürchtete er den Tag, an dem ihre Erinnerung zurückkehren würde. Allem Anschein nach war er jetzt gekommen. Das hast du nun davon, alter Narr.

      „Es ist besser, wir lassen das.“

      „Aber damals …“

      „Damals hätte ich fast einen Fehler begangen – und das bereue ich. Ich weiß, dass ich nicht damit hätte anfangen dürfen. Aber die Situation … du weißt schon, was ich meine, war auch für mich zu viel. Auch ich war überfordert, und als Konsequenz davon ist mir das herausgerutscht. Das tut mir leid. Ich bin nichts als ein geschwätziger alter Narr.“

      „Aber … aber …“

      „Nichts aber. Glaub mir, es ist besser, wenn du diese Unterhaltung aus deinem Gedächtnis streichst. Tu einfach so, als hätte es sie nie gegeben. Und jetzt geh!“

      Fast wäre Sabine tatsächlich gegangen; der grobe Ton erschreckte sie. So ungehobelt hatte sie ihn noch nie erlebt. Erst als sie bereits die Türklinke in der Hand hatte, besann sie sich, dass sie keine acht Jahre mehr war und ihr Vater ihr nichts mehr zu befehlen hatte. Sie wartete noch eine Sekunde, füllte ihre Lungen mit Luft und drehte sich langsam wieder um. In ihren Augen stand wilde Entschlossenheit (sie blitzten einem geradezu entgegen), und ihr Gesicht war hart wie Stein. Ihr alter Herr konnte davon freilich nichts sehen, denn seine Augen hatten im Laufe der Jahre nachgelassen.

      „Hör zu, Daddy! Ich bin kein kleines Mädchen mehr!“

      Der Klang ihrer Stimme überraschte sie beide, Sabine sogar noch mehr. Sie strotzte geradezu vor Entschlossenheit und Willensstärke. Und ihre Stimme, die kein bisschen zitterte oder schwächlich klang, bewirkte, dass sie sich ihrer Entscheidung sicher war. Jeder Zweifel wurde von dieser Stimme weggewischt wie ein Schmutzfleck von einer Fliese. Und da sie in ihrem Selbstvertrauen um einige Punkte nach oben geschnellt war, gab es jetzt kein Zurück mehr.

      „Ich bin kein kleines Mädchen mehr“, begann sie von neuem.

      „Ja, ich weiß. Aber …“

      „Warum behandelst du mich dann so?“

      „Aber Kindchen, das tue ich doch gar nicht. Das bildest du dir ein.“

      „Da! Schon wieder! Du tust es schon wieder!“

      „Was denn? Was tue ich schon wieder?“

      Gott, konnte man wirklich so begriffsstutzig sein? War das möglich? Oder war es nur ein Ablenkungsmanöver? Es wäre nicht das erste Mal, dass ihr Vater so was versuchte. Es war schon immer eine Unart von ihm gewesen, unangenehmen Fragen auszuweichen. Aber diesmal werde ich den Spieß umdrehen. Nicht mit mir, mein Lieber. Diesmal nicht!

      „Ach, vergiss es einfach. Das interessiert mich nicht im Geringsten.“

      Ihr Vater zuckte zusammen. Nicht viel, aber Sabine nahm es befriedigt und mit Genugtuung zur Kenntnis. Sie hatte also recht gehabt mit ihrer Vermutung: Er wollte vom Thema ablenken. Aber nicht diesmal. Oh nein, diesmal nicht! Es wird allmählich Zeit, fortzufahren, wurde sie von ihrer inneren Stimme ermahnt, sonst verschwendest du noch mehr Zeit. Und wer weiß, was dann passiert? Recht hat sie, pflichtete Sabine ihr bei und erhob ihre Stimme wieder gegen ihren Vater, ebenso fest und sicher wie zuvor.

      „Lass uns den Scheißdreck am besten vergessen! Schmeiß alles, was dir Sorgen bereitet, über Bord, all die Ängste und Bedenken, wirf sie einfach weg und erzähl mir, was es damit auf sich hat. Komm schon! So schwer kann das doch nicht sein!“

      „Du hast ja keine Ahnung …“

      Er sank ein wenig tiefer in seinen Schaukelstuhl. Auch das erfüllte sie mit Genugtuung. Aber es erwies sich als lange nicht so befriedigend wie beim ersten Mal.

      „Warum ist es so schwer? Erzähl es mir! Was soll so schwer daran sein?“

      „Weil es … Wenn es nicht so schreck … Vielleicht bleibt es ja aus. Vielleicht hast du ja Glück und es verschont dich.“

      Sie sah, dass er sich auf die Lippen biss. So heftig, dass ein Tropfen Blut aus ihnen quoll. Jetzt erwog sie ernsthaft, es zu vergessen, die ganze Sache abzublasen. So wie er reagierte, musste es etwas Schlimmeres sein als irgendein schmutziges kleines Familiengeheimnis. Etwas Gewichtigeres als ein ordinärer Obstdiebstahl aus Nachbars Garten. Ja, so viel stand fest. Aber so einfach konnte sie die Sache nicht vom Tisch fegen und zum Alltag zurückkehren. Ihre Neugier war geweckt, und wenn das erst einmal geschehen war, brauchte es mehr als eine aufgeplatzte Lippe, bis sie davon ablassen würde.

      „Was wird mich vielleicht verschonen?“

      Der Schaukelstuhl war mit einem Mal so groß wie das Universum und ihr Vater darin so klein wie ein Meteoritensplitter in den schwarzen Tiefen des Alls.

      Was habe ich nur angerichtet, fauchte es in ihm. Wie konnte ich das nur tun? Was ist mit mir los? Wie konnte ich mich so von ihr übertölpeln lassen? Ich muss völlig verkalkt sein. Doch halt: Noch ist ja gar nichts ausgesprochen. Noch habe ich eine Chance. Noch weiß sie nicht das Geringste. Ich muss nur ein bisschen vorsichtiger sein und ihr irgendeinen saftigen Brocken hinwerfen – einen, der vor Neuigkeiten nur so trieft. Es muss nur ihr Interesse wecken, mehr nicht. Doch wo gab etwas, was dazu imstande wäre? Fieberhaft überlegte er.

      „Was wird mich vielleicht verschonen?“

      Diesmal klang ihre Stimme noch fordernder. Langsam ging sie auf ihn zu, näherte sich Schritt für Schritt. Und ihr Vater wurde kleiner und kleiner. Eigentlich hatte er es selbst zu verantworten, dass seine Tochter es unbedingt wissen wollte. Schon seine Haltung, sein Äußeres verrieten, dass er etwas vor ihr verbarg. Wie er unruhig die Hände ineinander rieb, sich selbst verstohlen über die Schulter blickte, als sitze da jemand hinter ihm! Wie ihm der Schweiß von