Der Zorn der Hexe. Lars Burkart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lars Burkart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754180617
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extra starken. Als sie sich umdrehte und in das fremde, mittlerweile noch mehr gealterte Gesicht sah, kippte sie gleich noch etwas mehr Alkohol in die Gläser. Wer weiß, wozu es gut war! Sein Gesicht war nun nicht mehr das eines Hundertsiebzigjährigen, sondern die Fratze eines tausendjährigen giftigen Trolls. Es war in sich zusammengefallen und stumpf. Und es war vom Grauen gezeichnet.

      Das war fast mehr, als sie ertragen konnte. Sabine leerte die zwei Gläser und kehrte zurück an die Bar, um zwei neue zu mixen. Um ein Haar hätte sie die auch wieder in sich hineingeschüttet. Sie musste sich zwingen, es nicht zu tun. Es gelang ihr, einigermaßen sicher zu laufen, obwohl ihre Beine sich anfühlten wie weichgekochte Spaghetti. Um nichts auf der Welt sollte ihr Vater sie so sehen. Der brachte es fertig und blies das Ganze wieder ab!

      Als sie ihn schließlich erreichte und ihm den Drink in die Hand drücken wollte, sah sie mit Entsetzen (und der Anblick genügte, ihr einen eisigen Schauer über den Rücken zu jagen), dass nicht nur sein Gesicht erschreckend alt wirkte, sondern seine gesamte Erscheinung: Er machte einen Buckel wie eine Katze, seine Haut ähnelte uraltem Pergament, und seine Glieder zitterten ohne Unterlass. Sie biss erneut die Zähne zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen.

      Langsam ließ sie sich auf einem Sessel neben ihm nieder, nippte ein wenig an ihrem Drink und sah ihn ruhig an. Die beiden anderen begannen bereits zu wirken; sie sah jetzt dem, was kommen mochte, etwas ruhiger entgegen. In ihrem Bauch war es warm, und in ihrem Kopf drehte es sich.

      Ihr alter Herr ließ die Fingergelenke knacken. Sie hasste es, wenn er das tat, aber heute registrierte sie es kaum. Viel zu sehr war sie über sein Äußeres bestürzt.

      Ungeschickt fingerte er nach seinem Glas und hatte Mühe, es auch nur anzuheben. Es verging fast eine Minute, bis er es endlich an seinen Mund geführt hatte. Die Vorbereitung nahm zwar einige Zeit in Anspruch, aber das Trinken klappte wie von allein: Innerhalb von einer Sekunde war das Glas leer. Der Drink tat verdammt gut, aber auf einem Bein konnte man nicht stehen. Also erhob er sich schwerfällig, wobei seine Knochen knackten, und stolperte zur Hausbar. Und obwohl er mehr schlich als ging und Sabine hochsprang, als er sich erhob, erreichte sie die Bar erst nach ihm.

      Keiner der beiden sagte ein Wort, als sie nebeneinander standen und sich einen weiteren Drink mixten. Und sie sprachen auch nicht, als sie wieder zu ihren Plätzen zurückgingen. Sabine wurde schmerzhaft an eine Beerdigung erinnert. Das gleiche Gefühl überkam sie auch jetzt; die Stimmung war genauso erdrückend und ernst. Aber es war nicht nur das – es war noch etwas anderes.

      Sie saßen einander ein paar Minuten schweigend gegenüber, nippten an ihren Gläsern und wussten nicht recht, wie sie sich verhalten sollten. Natürlich ahnten beide, dass bald eine Veränderung eintreten würde. Doch nur ihr Vater wusste, was diese für Ausmaße haben würde …

      Sabine rutschte auf ihrem Sessel herum. Sie konnte keine Sekunde still sitzen. Sie fieberte dem Moment entgegen, wo sie es endlich erfahren würde. Ganz anders ihr Vater. Er wäre am liebsten im Boden versunken. Nur weg von hier, weg, schrie es in seinem Hirn.

      Schließlich war Sabine sich nicht mehr sicher, ob sie es wirklich noch wissen wollte. Der besorgte Gesichtsausdruck ihres Vaters und seine kummervoll zusammengesunkene Gestalt gaben ihr doch zu denken. Doch sie verbannte Zweifel und Unentschlossenheit in einen finsteren Kerker, verrammelte die Tür und warf den Schlüssel weg.

      „Nun“, begann sie, „du hattest etwas vor!“

      „Was? …? Ach so, ja.“

      Noch immer dieser Gesichtsausdruck, als wolle er trotz seines Versprechens noch immer schweigen. Für Sabine sah das nach einer erneuten Hinhaltetaktik aus. Doch damit täuschte sie sich. Sie sah nicht das angstvolle Flackern in seinen Augen, bemerkte nicht die Schweißtropfen, die wie Perlen auf seiner Stirn standen. Und selbst wenn sie sie gesehen hätte, wäre es in ihren Augen Ablenkungsmanöver gewesen. Ihrer Meinung nach wollte er sie so lange hinhalten, bis sie das Interesse verlor. Doch darauf konnte er warten, bis er schwarz wurde! Eher mache ich einen Handstand und fange mit meinem Arsch Fliegen, als dass diese Rechnung aufgeht! Das steht fest! Hundertprozentig!

      „Und? Wann gedenkst du, es mich wissen zu lassen?“

      „Kind, willst du nicht lieber …? Es ist besser, wir vergessen das Ganze und widmen uns wieder der Normalität.“

      Also doch, dachte Sabine, hab ich’s doch gewusst.

      Ihre Augen schossen giftige Pfeile in seine Richtung. Sie erstarrte, und für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, ihm an den Hals zu springen. Durfte sie so etwas denken? Er war doch ihr Vater! Doch sie war wütender als eine Raubkatze, die beim Fressen gestört wurde und entschlossen, es nicht zu verbergen. Sollte er doch merken, dass es ihr verdammt ernst war!

      „Du weißt …, du weißt doch gar nicht, was dich erwartet. Du weißt nicht, was es ist. Nur deswegen bist du so erpicht darauf. Es ist schrecklich. Du kannst dir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie sehr du…“

      „Vater, sag es mir endlich! Sonst … sonst … sonst schwöre ich bei Gott, ich gehe durch diese Tür, verlasse dieses Haus und komme nie wieder zurück! Überleg dir, was dir lieber ist!“

      Jetzt war es heraus. Sie hatte ihn nicht erpressen wollen, und die Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen. Aber jetzt, da sie gesagt waren, bereute sie sie nicht. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie hatte ihrem Vater das Messer an die Brust gesetzt, und nun lag es an ihm, eine Entscheidung zu treffen.

      Und er dachte tatsächlich nach – allerdings ganz anders, als Sabine es vermutete. Er wog das Pro und Contra des Vorschlages genau ab. Ja, er nannte es einen Vorschlag, denn auch ihm war der Gedanke schon gekommen. Auch er liebäugelte heimlich damit, sie wegzuschicken, sie wie einen räudigen Kojoten einfach fortzujagen. Und diese Vorstellung übte einen gewissen Reiz auf ihn aus. Er war zwar nicht besonders erpicht darauf, von seiner Tochter getrennt zu sein und sie vielleicht nie wiederzusehen (denn das brachte das Ganze ja mit sich), doch er hatte die vage Hoffnung, dass das das Beste für sie sein könnte. Vielleicht hatte sie ja so eine Chance, IHR zu entkommen? Darüber dachte er nicht zum ersten Mal nach. Oh nein, ganz und gar nicht. Doch wie immer kam er auch diesmal zu dem Ergebnis, dass damit niemandem gedient war, am allerwenigsten ihr. So wäre sie nur auf sich allein gestellt. Und SIE würde ihr zweifellos folgen. Nein, so ging es auch nicht. Dann schon lieber das Geheimnis preisgeben …

      Er war überrascht, wie viel Zeit verging, während er diese Gedanken spann. Sein Glas war schon wieder leer, er musste es ausgetrunken haben. Allerdings überraschte es ihn nicht, dass Sabine ihm noch immer gegenüber saß. Er kam sich vor wie bei einem Verhör. Sabine beobachtete jede seiner Bewegungen. Er hatte das Gefühl, dass ihre Augen sich regelrecht in sein Fleisch brannten. Für einen Moment war es so real, dass er sein verkohltes Fleisch sogar zu riechen glaubte … Was für ein Wahnsinn!

      „Könntest du wohl mein Glas nachfüllen?“

      „Also wirklich … das ist doch.“

      Jetzt war es soweit. Jetzt würde sie gleich aufspringen und ihren eigenen Vater, den Menschen, der sie gezeugt hatte, erwürgen. Doch der Drang verflog glücklicherweise wieder, und es gelang ihr schließlich sogar, ein freundliches Lächeln aufzusetzen, in dem allerdings ein Schuss Bitterkeit nicht fehlte.

      „Na schön, ich hol dir deine Brühe. Aber dann hörst du endlich damit auf, wie eine Katze um den heißen Brei rumzuschleichen. Einverstanden?“ Sie war erstaunt, wie freundlich ihre Worte klangen.

      „Ich denke, ja.“

      „Fein. Dann ist ja alles geklärt. Überleg dir schon mal, mit was du anfangen willst! Ich werde schnell wie ein geölter Blitz wieder zurück sein, und dann will ich endlich was hören! Und bitte keine Ausflüchte mehr, sonst kriege ich, glaub ich, einen Schreikrampf, bis es mir die Schädeldecke sprengt!“

      Kaum hatte sie ihren Vortrag beendet, da stand sie auch schon auf und mixte neue Drinks. Und als sie sich wenig später wieder neben ihn setzte, begann er endlich zu reden. Und im Stillen pflichtete sie ihrem Vater bei: Im Nachhinein hätte sie gern darauf verzichtet, es zu erfahren. Aber jetzt war es dafür zu spät.

      Ihr