Der Zorn der Hexe. Lars Burkart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lars Burkart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754180617
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Frage: Wie würde er es aufnehmen, dass sie, Sabine, so plötzlich aus dem Nichts erschien? Wie würde er reagieren, wenn sie ihm eröffnete, dass er zwar in einem Waisenhaus gelebt hatte, er aber keineswegs eine Waise gewesen war? Dass seine leiblichen Eltern sogar recht wohlhabend gewesen waren? Er hätte es gut haben können. Stattdessen hatte er seine Kindheit in einem Heim verbringen müssen, ohne Eltern, ohne Geschwister. Bestimmt würde er sich fragen, warum.

      Da plötzlich tauchte in ihrem Denken noch etwas auf. Und dieses Etwas war hochinteressant. Es war die Frage, warum ihre Eltern sie, Sabine, nicht weggegeben hatten. Warum hatte ihr Vater sie unbeirrt großgezogen? Und nur zwei Jahre zuvor seinen einzigen Sohn weggegeben? Was hatte sich in dieser Zeit verändert? Was war anders geworden? Warum hatte er …?

      Da beantwortete diese Frage sich von selbst. Es hatte sich tatsächlich etwas verändert. Etwas Verheerendes. Ihre Mutter, Jennifer, war gestorben. Sie war überraschend von ihm gegangen, und da hatte er nicht mehr weitergewusst. Gewiss war er verzweifelt gewesen. Und um nicht ganz allein zu sein, hatte er sie, seine Tochter, behalten. Vielleicht hatte er Angst gehabt, allein zu sein. Vielleicht hat er auch nur eingesehen, dass es egal war, ob sie woanders war oder bei ihm, weil am Ende der Fluch ohnehin siegte. Und da wollte er sie doch lieber bei sich wissen, als irgendwo ganz auf sich allein gestellt …

      Doch noch einmal zurück zu der Frage, wie ihr Bruder dieses Wissen aufnehmen würde. Das konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen. Was sie aber wusste, war, dass sie es ihm unbedingt sagen musste. Falls er es nicht schon wusste … Die ganzen Wenns und Abers machten sie verrückt! Sei’s drum: Es gab wirklich Schlimmeres als so einen richtig schönen, hausgemachten Gehirndünnschiss, nicht wahr? Au ja, nämlich genau das, worin sie gerade steckte.

      Sie nahm ihren Blick zum ersten Mal seit Stunden von dem Papier, und ihr wurde schwummerig vor Augen. Doch das legte sich schnell wieder, und nun sah sie aus dem Fenster. Der Wolkenbruch hatte auf den Scheiben Schlieren hinterlassen, doch die waren ihr egal. Wäre alles noch beim Alten, wie noch vor einigen Wochen, hätte sie jetzt wahrscheinlich die Fenster geputzt. Aber da das nun einmal nicht der Fall war, waren schmutzige Fenster nicht mehr wichtig.

      Endlich erhob sie sich, allerdings schwerfällig wie ein Tattergreis. Ihre Knochen knackten wie trockene Zweige, und ihre Muskeln ächzten. Dennoch ließ sie sich von den Geräuschen nicht beirren und bewegte sie sich einfach weiter, ignorierte die Schmerzen, richtete sich auf. Dann stand sie da, starrte noch immer in Richtung Fenster und hatte damit zu tun, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Doch irgendwann ging auch das fast von allein, und sie konnte es riskieren, sich in Bewegung zu setzen. Sie musste noch einmal in den Keller und nachschauen, ob sie noch etwas fand, was ihr weiterhalf. Und wenn es nur einen Schnipsel gab. Es musste einfach etwas zu finden sein!

      Warum ihr Vater sie nicht weggegeben hatte, gab ihr immer noch zu denken. Lag es wirklich nur daran, dass er nach dem plötzlichen Tod seiner Frau allein gewesen war? Oder gab es noch einen anderen Grund? Und wenn ja, welchen? Gewiss hatte es auch damit zu tun, dass er zu diesem Zeitpunkt geglaubt hatte, es sei egal, ob die Kinder bei ihm waren oder nicht; der Fluch würde sie ohnehin finden. Aber das war es bestimmt nicht nur allein. Nein, da war noch mehr. Mehr, als sie jetzt ahnte. Und darum musste sie noch einmal in den Keller. Auch, wenn sie es nicht wollte und am liebsten keinen Fuß mehr dorthin gesetzt hätte.

      Nach mehr als drei Stunden intensiver Suche gab sie auf. Sie hatte nichts gefunden und war fix und fertig. Die Kopfschmerzen hatten zugenommen und hämmerten jetzt nicht mehr nur wie ein Dieselaggregat, sondern dröhnten und kreischten wie ein Bataillon Panzer. Und auch ihre Muskeln wollten nicht mehr. Sie fühlten sich an, als hätte sie einen Marathon hinter sich und bräuchte unbedingt ein paar Tage frei. Ihre Glieder zitterten vor Erschöpfung, und ihre Augen fielen schon fast von allein zu. Es war wirklich besser, wenn sie sich ein bisschen ausruhte. Sie konnte ja immer noch…

      Genau, das konnte sie. Sie würde nur ein wenig ruhen, aber sie würde die Suche nicht aufgeben. Nur ein paar Stunden schlafen, ein bisschen an der Matratze lauschen und dann gestärkt wieder ans Werk gehen. Das würde ihr guttun.

      Es blieb aber noch ein Problem. Sie war nämlich so fertig, dass es ihr unmöglich erschien, sich hinauf ins Obergeschoss zu schleppen. Hier unten bleiben wollte sie aber auch nicht. Eher würde sie sich quälen und die zwei Etagen meistern. So hatte sie zumindest gedacht. Doch das Ende vom Liedes sah anders aus: Sie schaffte es gerade einmal, sich aus dem Keller zu schleppen und bis in die Stube. Dann versiegte ihre Kraft. Doch wenigstens hatte sie es bis hierher geschafft und schlief nicht im dunklen Keller. Nicht, dass sie Angst hatte, es war eher ein beklemmendes Gefühl, wenn sie dort unten war. Sie war schon früher nicht allzu gern dort unten gewesen, aber seit ihr Vater dort unten gestorben war, hatte sie noch weniger das Verlangen, dort zu sein.

      Bis zum Schlafzimmer fehlte ihr eine Treppe, das war eine Etage höher, aber man musste nehmen, was man bekam. So ziemlich alles war besser, als in der Dunkelheit zu liegen, die eigene Hand nicht vor Augen zu sehen und nicht zu wissen, was in der Finsternis kreuchte und fleuchte. Dann schon lieber die Couch hier in der Stube. Hier riskierte sie wenigstens nicht, dass sie wach wurde, weil irgendetwas über ihre Hand kroch, oder schlimmer noch, etwas Glitschiges nach ihr griff …

      Kurz bevor Sabine einschlief, sinnierte sie, warum sie eigentlich im Keller gewesen war. Sie hatte es vor lauter Müdigkeit vergessen. Es war wichtig gewesen. Vielleicht aber auch nicht. Momentan war es ihr gleichgültig. Denn noch ehe sie diesen Gedanken weiterführen konnte, war sie auch schon eingeschlafen. Und ebenso schnell, wie sie eingeschlafen war, begann sie zu träumen.

      Und sie träumte …

      Sie lief durch dichten Wald. Der Weg war schmal und von Unkraut überwuchert. Er war fast nicht auszumachen. Das einzige, was ihn kennzeichnete, war der Umstand, dass hier keine Bäume wuchsen. Und auch die kamen ihr seltsam vor. Sie standen so dicht beieinander und waren so artenreich, wie sie es noch nie gesehen hatte: Da stand eine Buche neben einer Kiefer, eine Eiche wuchs im Schatten einer Fichte, und eine Tanne erhob sich neben einer Birke. In dem Wald herrschte einfach keine Ordnung. Und doch sah es aus, als sollte alles so sein, als hätte alles seine Richtigkeit. Vielleicht ja gerade, weil hier alles scheinbar aufs Geratewohl spross. Auch der Waldboden sah eigenartig aus. Da gab es Jungwuchs, der im Schutz der Bäume wucherte, Moos schimmerte an den mächtigen Stämmen, und Farne rankten sich wild an ihnen empor.

      Sabine blieb einen Moment stehen und lauschte in den Wald hinein. Irgendwie kam er ihr befremdlich vor, gleichzeitig aber so, dass er ganz genauso aussehen musste. So und nicht anders. Geräusche schwappten ihr wie eine Welle entgegen: Unterholz knackte, Vögel zwitscherten, Spechte klopften. Und wie es neben und vor ihren Füßen raschelte!

      Es war wunderbar. Und diese Luft. Ein Hochgenuss. Es machte Freude, sie einzuatmen.

      Sabine setzte sich in Bewegung, während die Sonne ihr ins Gesicht schien und der leise Wind mit ihrem Haar spielte. Es war angenehm, hier zu wandern. Auch wenn sie gar nicht wusste, wo sie war. Doch das war egal. Warum sollte sie es wissen? Warum? Was änderte das?

      Sie schlenderte den zugewucherten Weg entlang, und plötzlich hörte sie Stimmen. Sie drangen aus dem Nichts. Eben noch hatte sie nur die Geräusche des Waldes gehört, und jetzt kamen Stimmen dazu. Sie waren laut, so laut, dass sie die des Waldes verdrängten.

      Erst jetzt bemerkte sie, dass sie stehen geblieben war. Aber nicht nur das, nein, sie machte ihren Hals lang und reckte ihren Kopf in die Höhe. Das überraschte und belustigte sie. Sabine hatte nicht mit Menschen gerechnet. Sie hatte geglaubt, dieses Paradies gehöre ihr allein. Na, da hatte sie sich offenbar getäuscht …

      Sie lief weiter in Richtung der Stimmen. Sie waren ganz nah, mussten hinter der nächsten Anhöhe sein, die sich kaum zwanzig Schritte vor ihr erhob und gerade hoch genug war, um nicht drüber gucken zu können. Sie ging ohne Scheu auf sie zu und verringerte ihr Tempo. Sie tat es unbewusst, als hätten ihre Beine einen eigenen Willen. Ihre Schritte wurden langsamer und langsamer und setzten schließlich sogar aus. Also, das ist ja … da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt! Sabine war überrascht. Warum taten ihre Beine nicht, was sie sollten?

      Und dann taten sie es doch. Sie liefen weiter, aber nicht so, wie Sabine es gewollt hatte. Sie führten sie vom Weg hinunter, in den Wald