Der Zorn der Hexe. Lars Burkart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lars Burkart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754180617
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und? Passieren wird es ohnehin! Ob er es nun weiß oder nicht. Hast du dir schon mal überlegt, dass Unwissenheit vielleicht gar nicht so schlecht ist? Dass es vielleicht ganz gut ist, wenn es einen aus heiterem Himmel trifft? Was ich meine, ist Folgendes: Du setzt alles daran, ihn zu finden und ihn über diesen vermaledeiten Familienfluch aufzuklären. Dabei ist es vielleicht viel besser, er weiß davon gar nichts. Schicksalsschläge geschehen schließlich immer wieder, auch ohne Fluch: Unfälle ereignen sich, Krankheiten brechen aus, nahe Menschen sterben überraschend und, und, und. Verstehst du, was ich meine? Du bist so überzeugt davon, das Richtige zu tun, dass du vollkommen übersiehst, was Wahrheit bedeutet! Was sie heißt. Was sie verändert. Und vor allem, und das ist wohl das Wichtigste, wie sie schmerzt!

      All dies geisterte Sabine im Kopf herum, und es klang alles ziemlich überzeugend. Sie, Sabine, hatte die Wahrheit unbedingt wissen wollen. Doch das hieß noch lange nicht, dass es bei ihrem Bruder auch so war. Vielleicht war er ja ganz anders gestrickt? Vielleicht wollte er von alldem gar nichts wissen und in aller Ruhe sein Leben weiterleben? Schließlich bestand diese Möglichkeit durchaus. Sie kannte ihren Bruder nicht. Vielleicht war er anders als sie. Vielleicht …

      Verdammt, Sabine. Dieses ganze Gerede, vielleicht und wenn und aber … es hält dich nur ab und bringt dich nicht weiter! Triff eine Entscheidung! Aber überlege gut! Es kann schon begonnen haben. Dann bist du die einzige, die darüber Bescheid weiß!

      Sie machte es sich nicht leicht. Sie dachte über alles nach und wog alles gegeneinander ab. Um ein Haar war sie drauf und dran, ihren Bruder sein Leben einfach leben zu lassen. Sie war kurz davor, die Sache zu vergessen und sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Was sie davon abhielt, war ein einziger Gedanke. Oder vielmehr eine Frage: Hatte er Kinder?

      Bei dieser Vorstellung schauderte sie. Wenn dem so war, sah die Sache anders aus. Kinder waren unschuldig. Sie waren noch klein, sie sollten etwas vom Leben haben. Und, rein vom Logischen her, musste er Kinder haben. Schließlich musste, so makaber es auch klingen mochte, der Fluch fortgesetzt werden. Sie, Sabine, hatte keine. Blieb also nur er.

      Schön und gut. Sabine hatte sich also insofern mit sich selbst geeinigt, dass sie etwas unternehmen musste. Blieb noch immer die Frage, wie dieses „etwas“ aussehen sollte. Was das anging, hatte sie keinen blassen Schimmer. Sie tappte im Dunkeln. Und wie es schien, würde das noch ein Weilchen so bleiben.

      Sie saß nun schon seit längerem auf der Couch, hatte die Füße an sich gezogen, die Hände umfassten ihre Füße und hielten sie fest, die Knie waren nah bei ihrem Gesicht. So saß sie einfach nur da, ohne etwas zu tun. Und war erschrocken darüber, wie machtlos sie war. Selbst wenn sie ihn fand, machte das einen Unterschied? Würde es etwas nützen? Würde sich dadurch auch nur im Ansatz etwas ändern?

      Wahrscheinlich nicht. Trotzdem musste sie etwas tun. Es war ihr Bruder, verdammt, nicht irgendein Familienmitglied, nein, ihr leiblicher Bruder. Sie hatten ein und dieselbe Mutter, und wenn die keine Dummheiten gemacht hatte, auch den gleichen Vater …

      Sabines Kopf brummte wie ein Dieselgenerator. Wie oft hatte sie sich nun schon die Frage nach der Richtigkeit ihres Vorhabens gestellt? Wie oft? Und noch immer war sie zu keinem Entschluss gekommen.

      Sie hielt das Stück Papier, das sie gestern in Eile geschrieben hatte, in den Händen wie eine vollgeschissene Windel, mit den Fingerspitzen, ein Stück vom Körper entfernt. Dennoch musste sie es in der Hand halten. Und sie musste es lesen, immer und immer wieder. Das Papier war schon völlig zerknittert, es sah inzwischen so ramponiert aus, als sei es durch tausend Hände gewandert. Dabei war es nur einen Tag alt.

      Auf dem Zettel hatte sie ein paar interessante Dinge vermerkt. Allerdings war das nicht bewusst geschehen. Oh nein, sie hatte einfach alles aufgeschrieben, was sie in der Chronik gesehen hatte. Um es dann, zuhause, in sich aufzunehmen.

      Dieser Moment war nun gekommen und schon wieder gegangen, und seitdem saß sie reglos auf der Couch, starrte Löcher in die Luft und machte den Eindruck einer geistig verwirrten Frau – zumindest von einer, die in Gedanken so weit von der Realität entfernt ist, dass man sie als durchgeknallt hätte betrachten können.

      Doch Sabine war keineswegs durchgeknallt, und sie war auch nicht verwirrt. Sie war nur in sich gekehrt. Und das musste sie auch, schließlich hatte sie über etwas nachzugrübeln, was in seinen Auswirkungen so mächtig war, dass es nicht nur ihr Leben betraf, sondern auch das ihres Bruders und seiner Familie. Er hatte ganz gewiss eine Familie. Schließlich musste der Fluch ja weiterhin Bestand haben …

      Das Brummen des Dieselgenerators in ihrem Kopf nahm zu; jetzt klang es wie ein vollgeladener Öltanker, der schwerfällig durch die Wellen der Ozeane pflügt.

      Auf diesem Zettel, diesem dreimal verdammten Zettel, stand etwas, das sie gestern nicht registriert hatte. Entweder war sie dafür zu aufgeregt gewesen oder (das war das Wahrscheinlichste) oder sie hatte es einfach verdrängt, weil es zu viel für sie geworden war. Was es auch gewesen war: Es hatte einen Zweck erfüllt. Hätte sie es gestern schon gemerkt, hätte sie nicht gewusst, wie sie damit umgehen sollte. Vielleicht wäre sie so überwältigt gewesen, dass sie schreiend durchs Haus gestürmt wäre.

      Alles in allem war es gar nicht so viel, was da noch auf dem Zettel stand, nur ein Datum und die Adresse eines Kinderheims.

      Diese Adresse war es, die ihr zu schaffen machte. Sie führte ihr nämlich etwas vor Augen: Alles, was sie in den letzten Tagen erlebt, an Eindrücke gesammelt, gedacht und gefühlt hatte, war real. Und alles lief auf eine bestimmte Sache hinaus. Nämlich, dass ihre Familie schon lange, schon sehr, sehr lange unter dem Fluch litt. Und dass sie, Sabine, leider nicht die erste war, die etwas dagegen zu unternehmen versuchte. Alles deutete darauf hin, dass auch ihre Eltern dagegen zu kämpfen versucht hatten. Warum sonst hätten sie ihren erstgeborenen Sohn weggegeben? Nur weil sie sich erhofften, ihn so in Sicherheit zu wissen!

      Aber leider (und das hatte ihr Vater schließlich einsehen müssen) ließ der Fluch sich nicht so einfach austricksen. Das bewiesen die Lebensläufe der anderen. Sie verstreuten sich über den halben Erdball, hinterließen Spuren auf jedem Kontinent. Und das taten sie gewiss nur, um dem Fluch zu entkommen. Wahrscheinlich glaubte jeder, so wie auch Sabine, ausgerechnet er könne etwas dagegen unternehmen, das Verhängnis endlich beenden. Doch dem war nicht so, wie die Familienchronik bewies. Egal, wohin sie auch verschwanden, wohin sie auswanderten oder wie viele Meilen sie zwischen sich und ihren Geburtsort brachten: Am Ende war es immer der Fluch, der triumphierte.

      Genau das machte ihr Angst. Bislang hatte sie geglaubt, sie sei die erste, die etwas dagegen tun wollte. Aber so wie es jetzt aussah, schien es, als sei der Kampf gegen den Fluch ebenso alt wie der Fluch selbst. Das aber war nicht das eigentlich Schlimme. Nein, das wirklich Entsetzliche war, dass sie nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt hatten. Sollte es tatsächlich so sein, dass es absolut nichts gab, was man unternehmen konnte? War alles immer schon zum Scheitern verurteilt?

      Jeder andere hätte an dieser Stelle aufgegeben. Warum kämpfen, wenn man ohnehin verlor? Aber Sabine nicht. Sie war eine Kämpferin. Sie versuchte es selbst dann noch, wenn der Kampf längst verloren schien. Darum nagte diese Erkenntnis zwar an ihr, aber sie schaffte es nicht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.

      Zu dem Datum stand nichts weiter. Aber sie vermutete, dass es entweder das Datum der Geburt ihres Bruders war oder der Tag, an dem er in das Kinderheim gebracht worden war. Egal, was es war: Es war auf jeden Fall eine heiße Spur.

      Sabine kannte die Adresse inzwischen auswendig. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Heim. Zumindest malte sie sich aus, wie es aussehen mochte. Und zwar sollte es ein riesiges Schloss sein, mit zwei gigantischen Türmen, hoch in den Himmel ragend. Der Eingang war ein gewaltiges Tor, bewacht von einer Zugbrücke, die in der Nacht hochgezogen wurde, ein breiter Graben umgab das Schloss, und es lag in einem Wald, wo die Kinder spielten …

      Doch dann ließ sie von diesem Bild, dieser Vision ab. Sie merkte, dass sie alles andere als realistisch war. In Wirklichkeit sah kein Kinderheim so aus. Im Gegenteil, es war eher wahrscheinlich, dass es eine sterile Kaserne war, mit Gittern vor den Fenstern und strengen Erziehern, die keinen Spaß an ihrer Arbeit hatten. Wenn sie es so sah, mochte ihr Bruder alles andere als eine