Der Zorn der Hexe. Lars Burkart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lars Burkart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754180617
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blieb ihr Blick an ihm haften. Es war der Name ihrer Mutter. Als sie ihn sah, wurde ihr klar, dass sie darauf nicht vorbereitet gewesen war. In keinster Weise.

      Der Name ihrer Mutter war Jennifer. Und da sie jetzt auch noch ihren Geburtsnamen las, wusste sie endlich, dass ihre Mutter eine Nachfahrin der Hexe war. Sie war es, die den Fluch weitergegeben hatte. Bislang hatte sie immer geglaubt, ihr Vater sei es gewesen. Doch das war ein Irrtum. Ihr Vater hatte bei der Hochzeit den Namen seiner Braut angenommen: Jennifer Harms, stand da, und dann das Geburtsdatum, der 27. Juli 1949.

      Sie war also mehr als zehn Jahre jünger gewesen als ihr Mann, Sabines Vater. Der Todestag trieb ihr weitere Tränen in die Augen: 12. August 1972. Gerade einmal zwei Monate nach Sabines Geburt. Hatte ihr Vater nicht gesagt, sie sei plötzlich schwer krank geworden? War es nicht eher so, dass sie dem Fluch zum Opfer gefallen war?

      Halt! Halt! Halt! Wir wollen doch keine voreiligen Schlüsse ziehen!, protestierte es energisch in ihrem Inneren. Dass es so gewesen ist, ist gar nicht sicher! Ebenso kann es stimmen, was dein Vater gesagt hat! Außerdem: Du bist nicht wegen deiner Mutter hier! Also reiß dich gefälligst zusammen und blättere endlich weiter!

      Na also, geht doch.

      Sabine blätterte schweren Herzens weiter. Und fand auf der nächsten Seite das, wonach sie gesucht hatte. Da stand er nämlich, der Name ihres Vaters. Und während sie ihn sah, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie bis eben den Geburtsnamen ihres Vaters nicht gekannt hatte. Sie hatte fälschlicherweise angenommen, ihr Vater sei es gewesen, der den Fluch weitergegeben hatte.

      Patrick Harms, geborener Hauser, stand da. He, einen Moment mal bitte, ja? Wenn es nicht ihr Vater war, war es ja eigentlich völlig egal, ob er einen Bruder oder eine Schwester gehabt hatte, oder? Dann sollte ich vielleicht mal bei meiner Mom nachsehen. Und tatsächlich: Jetzt, wo ihr der Gedanke gekommen war, sah sie, dass bei ihrem Vater nichts weiter stand. Doch das war auch nicht weiter verwunderlich; er war ja nur angeheiratet. Wollte man mehr über ihn wissen, musste man die Chronik seiner Familie, der Familie Hauser, aufschlagen.

      Sie blätterte wieder eine Seite zurück. Wenigstens war sie jetzt vorbereitet und wurde von dem, was da stand, nicht ganz so arg durchgewirbelt. Am 27. Juli 1949 war sie also geboren. Seltsamerweise hatte Sabine auch das bis eben nicht gewusst. Ihr Todestag war der 12. August 1972. Sie war noch jung gewesen, als sie hatte sterben müssen, gerade einmal dreiundzwanzig, das war kein Alter …

      Sie las das Blatt bis zum Ende und las es dann noch einmal und dann noch einmal und schließlich sogar noch einmal.

      Doch eine Antwort auf ihre Frage fand sie auch hier nicht. Sie musste woanders suchen. In der Familienchronik war sie schon richtig, aber da sie nach einer Schwester oder einem Bruder ihrer Mutter suchte, musste sie weiterblättern. Dann fand sie sie vielleicht auf einem anderen Blatt.

      Sabine pflügte durch den Ordner, als gälte es, so viele Seiten wie nur möglich herauszureißen. Doch selbst dazu war sie zu aufgeregt. Sie zog und zerrte nur an ihnen, während sie hastig umblätterte.

      Und dann hatte sie etwas gefunden. Aber es war ganz und gar nicht das, wonach sie gesucht hatte. Ihre Mutter schien ein Einzelkind gewesen zu sein. Absolut nichts deutete darauf hin, dass sie noch einen Bruder oder eine Schwester gehabt hatte. Aus den Unterlagen war ersichtlich, dass ihre Eltern, also Sabines Großeltern, nur ein Kind gehabten hatten. Nämlich Jennifer.

      Da hatte Sabine schon aufgeben wollen. Doch sie blätterte noch einmal durch den ganzen Ordner, und endlich entdeckte sie die Wahrheit, die sie übersehen hatte. Bis jetzt hatte sie immer schnell geblättert, und da sie sich dabei auch noch auf die Daten ihrer Mutter konzentriert hatte, hatte sie das wirklich Interessante übersehen. Aber jetzt brannte es sich in ihre Augen. Sie starrte das Blatt an und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

      Auf diesem Dokument stand, dass sie, Sabine, einen Bruder hatte. Ihre Mutter war ein Einzelkind gewesen, zumindest deutete nichts auf etwas anderes hin. Aber sie selbst war es nicht. Sabine hatte einen Bruder. Und wie sie den Daten entnehmen konnte, war er knapp zwei Jahre älter als sie selbst.

      Ihren Zustand mit einem Schock zu beschreiben wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Sie schlotterte am ganzen Leib und konnte einfach nicht glauben, was sie las. Sie, Sabine, sollte einen Bruder haben? Sie sollte tatsächlich einen Bruder haben?

      An das, was dann geschah, konnte sie sich später nur noch bruchstückhaft erinnern. Sie kramte mit zittrigen Händen in ihrer Handtasche nach einem Stift und einem Stück Papier, schrieb den Namen und das, was sonst noch über ihn stand, hastig ab mit Kritzelschrift, stand auf (wobei der Stuhl quietschend über den Boden rutschte) und stürmte aus dem Raum.

      Draußen, auf dem Korridor, schien sie regelrecht zu schweben. Sie schwebte wie eine Feder im Wind auf den Fahrstuhl zu, und dann stand sie plötzlich wieder an der Rezeption, wo die freundliche alte Dame ihr etwas zurief, was sie nicht verstand. Sie hob wie zum Abschied die Hand, und dann war sie auch schon draußen, vor der Tür.

      Der Regen musste noch zugenommen haben, denn er schmetterte die Tropfen mit brachialer Gewalt in ihr Gesicht. Der Wind hätte sie fast umgeworfen. Ja, einen Moment war sie drauf und dran, das Gleichgewicht zu verlieren, zu stürzen. Sie schwankte wie ein betrunkener Seemann auf Landgang.

      Doch dann war sie plötzlich an ihrem Auto und saß schon darin. Alles kam ihr vor wie ein Traum. Die Zeit schien wie im Zeitraffer zu laufen: Eben noch war sie dort gewesen, und gleich darauf schon wieder anderswo, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war. Einen Moment dachte sie, sie müsste gleich schreien und im nächsten, sie müsste sich totlachen. Endlich fragte sie sich, warum sie eigentlich so durch den Wind war. Sie hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte. Zugegeben: Das, was sie gefunden hatte, wich von dem, was sie gesucht hatte, ganz schön ab. Aber, verdammt noch mal, wichtig war nur, dass sie eine Spur hatte. Es hätte auch ganz anders kommen können. Dann wäre sie genauso schlau gewesen wie vorher. Wäre das wirklich so toll gewesen?

      Doch sich selbst solche Dinge zu fragen, war in etwa so, als versuche sie, einer Türklinke die Relativitätstheorie zu erklären. Sie begriff einfach nichts und dachte noch weniger. Ihr Kopf war wie leergepustet, wie ein Kürbis, dem man zu Halloween das Fleisch herausgeschabt hat und der nur noch eine Maske ist.

      So vieles hatte sich verändert. Sie war kein Einzelkind mehr, sie hatte jetzt einen Bruder. Einen älteren Bruder. Sie hatte …

      Sie hatte eine Aufgabe, verdammt noch mal. Eben weil sie einen Bruder hatte.

      Nervös huschte ihre Hand in die Handtasche. Einen Moment glaubte sie, den Zettel verloren zu haben. Doch er war noch darin. Er raschelte zwischen ihren Fingern.

      Der Regen prasselte gegen die Scheiben und auf das Dach, und hier drinnen klang es, als feuerte ein Maschinengewehr. Es platschte und knatterte. Allmählich beschlugen die Scheiben. Sabine konnte schon jetzt kaum noch etwas sehen.

      Sie startete den Motor, schaltete die Klimaanlage an und blieb noch ein paar Minuten stehen. Der Motor brummte im Leerlauf, und mit der Zeit wurden die Scheiben frei. Trotzdem fuhr sie noch nicht los. Sie musste erst einen freien Kopf bekommen.

      8. Kapitel

       8. Kapitel

      Der Regen wollte den ganzen Tag über nicht nachlassen und hielt an bis in die Nacht. Aber noch ehe der Morgen graute, ließ er nach, und gegen zehn schien die Sonne. Sie hatte es zwar anfangs noch schwer, sich gegen die schwarzen Wolken zu behaupten, aber je mehr Zeit verstrich, umso intensiver strahlte sie. Gegen Nachmittag, wenn es schon auf den Abend zugehen würde, würde vielleicht gar keine Wolke mehr am Himmel hängen. Doch das war Zukunftsmusik.

      Für Sabine war das Wetter unwichtig. Es interessierte sie nicht im Mindesten. Sie hatte Wichtigeres im Sinn.

      Da war zum einen die Sache mit ihrem Bruder. Bis gestern hatte sie nicht einmal etwas geahnt von seiner Existenz, und nun zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sie ihn finden konnte. Zum anderen wusste sie plötzlich nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sollte sie ihren Bruder überhaupt aufsuchen? Oder war es vielleicht doch besser,