Der Zorn der Hexe. Lars Burkart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lars Burkart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754180617
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Fall. Schließlich standen da ja keine Staatsgeheimnisse drin, sondern nur Angaben über ihre Familie. Außerdem wollte sie ja nicht die ganze Stadt auskundschaften.

      Sabine trank den letzten Schluck Kaffee, stellte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine, wusch sich, zog sich an und machte sich auf den Weg ins Standesamt.

      Kräftig schüttelte Sabine den Schirm aus, denn den hatte sie gebraucht. Es hatte so stark zu regnen begonnen, dass es einem Inferno gleichkam. Als sie vom Anwesen losgefahren war, hatte es leicht zu tröpfeln begonnen. Aber es war schnell kräftiger geworden, und jetzt regnete es so stark, dass sie für die paar Schritte vom Auto zum Standesamt einen Schirm brauchte, um nicht bis auf die Knochen durchzuweichen. Sie hatte nur mit Schrittgeschwindigkeit fahren können, weil die Straßen unter Wasser standen.

      Hier drinnen war es überraschend kühl, doch vielleicht war nur der Regen schuld daran, dass es ihr so vorkam. Wenigstens war es trocken.

      Eigentlich hatte Sabine geschäftiges Treiben erwartet. Oder zumindest etwas, das darauf hindeutete, dass hier gearbeitet wurde. Aber hier war tote Hose, wie sie überrascht feststellte. Entweder wurde hier aus Prinzip nicht gearbeitet und es war der ruhigste Posten der Welt, oder aber sie war einfach nur zur Mittagszeit aufgekreuzt. Mal schauen, woran es lag!

      Langsam ging sie zu der Informationstheke, hinter der eine gertenschlanke, uralte Frau saß, die sie schon die ganze Zeit missmutig über ihre dicke Hornbrille hinweg beobachtet hatte. Als sie die alte Hexe da so sitzen sah, fröstelte sie gleich noch ein wenig mehr. Schau sie dir nur an, wisperte es in ihr, wenn das keine Hexe ist, fresse ich einen Besen! Und dafür brauche ich noch nicht mal Salz, den krieg ich nämlich so runter. Die ist doch für euren verdammten Scheißfamilienfluch verantwortlich, das steht ihr doch buchstäblich ins Gesicht geschrieben! Und dann, weil es so schön war, fügte sie noch hinzu: Sieh sie dir doch nur mal an!

      Und Sabine sah sie sich tatsächlich genau an – jedoch nicht, ohne sich nicht zu fragen, ob sie vielleicht ein paar Tage ausspannen sollte. Wenn es nämlich schon so weit war, dass sie jede alte Frau für eine Hexe hielt, war es dafür wirklich höchste Zeit.

      Die gute Frau hinter der Infotheke sah aber auch wirklich … Nun ist es aber genug!

      „Einen wunderschönen guten Tag. Ich hätte da mal eine Frage.“

      „Fragen Sie! Fragen Sie!“

      Trotz des ersten Eindruckes schien die Alte ein freundliches Persönchen zu sein. Sie schwang sich jedenfalls auf keinen Besen und flog kreischend von dannen. Sabine, reiß dich gefälligst zusammen! Sie ist keine Hexe, okay? Deine Nerven liegen einfach nur blank. Du bist erschöpft, überspannt, gereizt …

      Ja, ja, schon gut, ab jetzt halte ich den Ball flach, ich verspreche es!

      Fein, aber kann ich mich darauf auch verlassen?

      Ja, verdammt!

      „Mein … mein Vater ist letzte Woche leider gestorben.“

      „Oh, das tut mir wirklich sehr leid, mein Kind.“

      „Es war … ein Herzinfarkt. Es ging aber sehr schnell. Er musste nicht lange leiden.“

      „Das freut mich für ihn.“

      Warum, zum Geier, erzählst du ihr das? Glaubst du tatsächlich, sie interessiert sich dafür? Nein, das glaubte sie nicht. Aber sie wusste einfach nicht, wie sie die richtigen Worte finden sollte. Und ehe Schweigen zwischen ihnen lag, redete sie lieber. Schließlich wollte sie die Frau bei der Stange halten. Doch während sie das dachte, hatte sie ein paar Sekunden geschwiegen.

      „Nun sagen Sie schon, mein Kind: Was kann ich für Sie tun?“

      „Ich … ich möchte ihn nächste Woche beerdigen, und ich weiß, dass er sich gewünscht hätte, dass die ganze Familie da endlich mal wieder beisammen ist. Doch genau da gibt es ein Problem. Unsere Familie ist nämlich in alle Himmelsrichtungen verstreut, und dementsprechend schwer ist es, sie alle zu informieren.“ Das war natürlich schlichtweg gelogen. Ihr Vater war längst beerdigt, aber das musste die Frau nicht wissen.

      „Ich verstehe.“ An dem Kommentar war nicht zu erkennen, was sie davon hielt.

      „Und genau dabei bräuchte ich Ihre Hilfe.“

      „Was kann ich denn da für Sie tun?“

      „Nun, ich würde gerne wissen, ob es so etwas wie ein Geburtenregister gibt. Und ob ich da wohl einen Blick hineinwerfen könnte?“

      „Im Prinzip spricht nichts dagegen. Sie müssen sich nur ausweisen und natürlich die Geburtsurkunde Ihres Vaters vorlegen. Dann steht dem eigentlich nichts im Wege.“

      Was denn? So einfach ging das? Sabine war überrascht. Sie hatte nicht gewusst, dass es so einfach ging. Sie hat mit Schwierigkeiten gerechnet und dass man ihren Wunsch abwehren würde. Dass es so schnell und fast unbürokratisch funktionieren sollte, daran hatte sie in ihren wildesten Träumen nicht glauben wollen. Ihren Ausweis hatte sie ohnehin immer bei sich, und sogar die Geburtsurkunde ihres Vaters hatte sie vorausschauend mit eingepackt.

      „Das ist wirklich sehr lieb von Ihnen. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.“

      „Nun übertreiben Sie aber, mein Kind! Es ist Ihr Bürgerrecht, Einsicht in familiäre Akten zu erhalten. Es gibt natürlich Standesämter, bei denen das nicht so schnell möglich ist. Aber bei uns ist es das. Soll ich Ihnen verraten, wieso?“

      „Ja, bitte …“

      Sabine war noch immer so überrascht, dass sie lammfromm war. In diesem Zustand konnte sie keiner Fliege etwas zuleide tun.

      „Ganz einfach: In anderen Standesämtern ist es üblich, die Geburten, wie auch die Sterbedaten, nach Jahren einzutragen.“

      Anscheinend guckte Sabine ratlos, denn die Alte fuhr gleich fort, es ihr zu erklären: „Jeder Ordner beinhaltet normalerweise die Daten der Sterbenden und der Lebenden, und zwar für ein ganzes Jahr: vom ersten Januar null Uhr bis zum einunddreißigsten Dezember dreiundzwanzig Uhr neunundfünfzig. Und, wenn Sie so wollen, neunundfünfzig Sekunden. Aber bei uns ist das nicht der Fall. Wir tun noch ein klein wenig mehr. Wir haben eine Abteilung, die das genauso macht, aber dann noch eine, die es für die einzelnen Familien tut. Und deshalb können wir Ihnen so einfach Einblick gewähren. Sie sehen nur die Daten ihrer Familie, und so bleibt der Datenschutz gewährt.“

      „Interessant.“

      Das war es wirklich. Den Bruchteil einer Sekunde lang merkte sie, dass es nicht nur interessant war, nein, mehr als das: Es war phänomenal, zumindest, was ihr Anliegen anging. So konnte sie nämlich beliebig die Zeit zurückblättern bis … ja, bis wann eigentlich?

      „Eine Frage hätte ich aber noch.“

      „Nur zu. Ich sitze einzig und allein hier, um Fragen zu beantworten.“

      Wieder musste Sabine einen ersten Eindruck revidieren. Sie hatte diese Frau, noch ehe sie ein Wort mit ihr gewechselt hatte, nur nach ihrem Aussehen beurteilt, und das hatte sich als völlig ungerecht herausgestellt. Sie war weder eine Hexe noch für ihren, Sabines, Familienfluch verantwortlich. Ganz im Gegenteil: Sie war eine wahre Rarität, sie gehörte nämlich zum Schlag jener Menschen, die hilfsbereit waren und freundlich. Damit gehörte sie einer aussterbenden Rasse an.

      „Seit wann ist das hier schon so?“

      „Sie meinen, seit wann wir hier diese Eintragungen vornehmen?“

      „Ja. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich ein bisschen umständlich daherkomme. Der Tod meines Vaters steckt mir doch noch sehr in den Knochen …“

      „Das verstehe ich sehr gut, mein Kind. Sie müssen sich dafür nicht entschuldigen. Um ihre Frage zu beantworten: Seit 1951 wird jede Geburt und jeder Sterbefall notiert. Davor war es ein wenig schwieriger; gerade im Zweiten Weltkrieg war es fast unmöglich. Da sind die Unterlagen sehr bruchstückhaft. In den Jahren zwischen den Kriegen ist es wieder etwas besser. Aber natürlich lange nicht befriedigend.“

      „Und seit wann werden diese Eintragungen vorgenommen?“