„Was für meine Mordtheorie spricht, ist die Art, wie das Seil ans Treppengeländer gebunden war. Mehrmals um den Handlauf gewickelt, mit simplen Knoten befestigt. Schließt ihr euch der Meinung an, dass ein ausgewiesener Segelsportler wie Thilo van der Leuwen mutmaßlich eher einen Seemannsknoten verwendet hätte?“ „Vorausgesetzt er war dazu in der Lage.“, merkt Merle an. „Was meinst du?“, erkundigt sich Lena. „Bedenkt bitte, er war gehandicapt. Der Gips! Konnte er mit dieser Einschränkung Seemannsknoten binden?“ „Ein berechtigter Einwand. Das müssen wir abklären.“, erklärt Lena. Sie kritzelt in ihr Notizbuch. „Ich notiere ebenfalls, das wir wegen des Stunks im Vereinslokal nachfragen. Was war da genau los? Wer waren die Beteiligten? Gibt es ein Rachemotiv?“ Mittler bittet: „Fragt nach, ob Thilo Feinde hatte. Wie war sein seelischer Zustand? Litt er unter Depressionen? Grabt alles über ihn aus.“
„Fangen wir im Vereinslokal an, Lena? Das BOOTSHAUS öffnet um 10 Uhr. Ich habe es auf der Homepage gecheckt.“, erklärt Merle und steckt ihr Smartphone ein. „Danke. Ja gut. Beginnen wir dort. Ein Ausflug zum Hafen am morgen. Wie schön!“, grinst Lena. Sie steht auf, zieht ihre Jeansjacke an.
„Ich spreche bei der Visite mit Doktor Harr und frage, ob Thilo einen Knoten hinbekam. Schaut ihr nachmittags nochmal bei mir rein? Vielleicht hat Albert bis dahin ein Ergebnis, das uns voranbringt.“ „Machen wir. Falls was dazwischen kommt, rufen wir an. Brauchst du was? Sollen wir etwas mitbringen?“ „Nein. Alles gut.“ „Okay. Bis dann.“ „Viel Erfolg bei der Ermittlung.“ „Danke. Tschüss Ronny. Bis später.“ Sie gehen.
„Moment bitte! Kommt nochmal rein!“, ruft Mittler ihnen nach. „Was ist?“, fragt Merle. „Ich werde alt oder es liegt an den Medikamenten. Ich vergaß, zu fragen, ob ihr den rechten Hausschuh des Verstorbenen gefunden habt?“ Die Kommissarinnen sehen sich überrascht an. „Im Augenblick bin ich überfragt ....“, gesteht Lena. „Ich dito.“, schließt Merle sich schulterzuckend an.
Mittler erklärt: „Während ich in der Nacht den Leichnam betrachtete, bemerkte ich, dass an seinem rechten Fuß kein Pantoffel war. Der Fuß war nackt. Am Linken war ein karierter Hausschuh. Schwarze und weiße Quadrate hatte der. Wie ein Schachbrett, versteht ihr? Wo ist er? Lag er auf dem Grund des Treppenschachts? Im Treppenhaus vielleicht?“ „Davon weiß ich nichts, Ronny. Was ist mit dir Merle?“ „Nein. Keine Ahnung. Ich höre zum ersten Mal davon.“
Lena erklärt: „Wo wir eintrafen, war der Tote bereits geborgen. Albert Meyer veranlasste es. Er war vor uns am Ort des Geschehens. Der Tote war schon im Leichensack, bereit zum Abtransport in die Rechtsmedizin. Wie der Verstorbene aufgefunden wurde, sahen wir auf dem Kameradisplay eines Kollegen der Gerichtsmedizin. Dass ein Hausschuh fehlte, bemerkten wir nicht.“
„Dann los! Geht ins Zimmer des Toten. Seht nach, ob ihr den Pantoffel findet. Wenn nicht, fragt im Haus, ob ihn jemand fand. Putzfrauen. Hausmeister. Schwestern. Pfleger. Jeden, der in Frage kommt. Ich will wissen, wo der Latschen ist.“ „Puh! 6 Stockwerke. 41000 Quadratmeter Nutzfläche. 814 Betten.“, stöhnt Merle. „Damit sind wir den restlichen Tag beschäftigt. Ist das nicht ein bisschen viel Aufwand wegen dem Hauslatschen?“ „Nein, ist es nicht! Es kommt vor, dass Kriminelle Trophäen ihrer Taten sammeln. Psychisch Gestörte vor allem.“ „Entschuldigung. Das habe ich nicht bedacht. Du hast recht! Tut mir leid.“ „Noch was! Erkundigt euch nach Überwachungskameras. Lasst euch die Aufnahmen aushändigen.“
Später erhält Mittler eine Textnachricht auf sein Smartphone: Pantoffel im Zimmer gefunden. Fotos anbei. Hausmeister hat uns eine DVD mit Film der Überwachungskamera gebrannt. Sind unterwegs zum BOOTSHAUS. Merle & Lena.
Visite.
„Moin Herr Mittler.“, grüßt Doktor Harr. Er macht einen übernächtigten Eindruck. Unter den Augen des Mediziners zeigen sich dunkle Ränder. Oberschwester Ulrike Kill folgt ihm auf dem Fuße. Sie schiebt einen Rollwagen ins Zimmer. Der enthält Akten aller Patienten der Privatstation. Einen Ordner sucht sie heraus, legt ihn auf den Wagen. Im Anschluss widmet sie sich Mittler. „Moin“ nuschelt sie kurz angebunden. Mehr bringt Perle nicht über die Lippen. Sie schüttelt das Kopfkissen auf. Professionell erledigt sie ihre Aufgaben, wuselt geschäftig umher.
„Wie ist heute ihr Befinden?“, erkundigt sich Dr. Harr. „Danke der Nachfrage, ich fühle mich besser.“ „Schön. Schön. Das freut mich. Wie gesagt.“
Er greift die Patientenakte. Blättert. Liest. Tippt mehrmals auf ein Blatt und sagt: „Nachtschwester Friederike protokollierte Schwindel. Sie nennt einen Schwächeanfall aus Überanstrengung als Grund. Was war da los?“ „Das ist richtig. Bei der Inaugenscheinnahme des verstorbenen Herrn van der Leuwen wurde mir schwindlig.“ „Ah ja. Ich entsinne mich. Friederike erwähnte es. Sie bat sie um Rat, nicht wahr? Als anwesenden Experten sozusagen.“ „So war es. Beim Betrachten des Verstorbenen schwächelte ich dann.“ „Verständlich. Ungewöhnliche Situation, der sie ausgesetzt waren.“
Mittler zuckt mit den Schultern, sagt: „Nicht wirklich.“ „Sie sind bei der Mordkommission, richtig?“ „Das trifft zu. Ich bin KHK.“ „Diese Abkürzung steht vermutlich nicht für Koronare Herzerkrankung?“, scherzt Professor Harr. „Nein!“, lacht Mittler. „Kriminalhauptkommissar.“ „Ah ja! Schön, schön. ... Ergo ist der Anblick Verstorbener für sie, ... wie drücke ich es aus ... professioneller Alltag und dergleichen?“ „In der Tat kann man es so bezeichnen.“
„Sie bekommen des Öftern Unappetitliches vor Augen?“ „Das ist unumgänglich.“ „Zu diesem Beruf ist vermutlich nicht jeder geeignet.“ „Sie sagen es, Doktor Harr. Ein Mordermittler muss psychisch topfit sein und Charakterstärke besitzen. Ein belastbarer Magen ist ebenso von Vorteil.“ „Der Anblick eines Verstorbenen ist für sie Routine, nehme ich an, Herr Kommissar?“ „Wie sie sagen. Es gehört zum Arbeitsalltag eines Mordermittlers.“
Oberschwester Kills Tätigkeiten sind beendet. Sie bezieht Position neben Professor Harr. Fachlich erweckt sie einen kompetenten Eindruck. Ansonsten zeigt Ulrike nicht die Herzlichkeit, die Frauen ihrer Berufsgruppe auszeichnet. Ihr Gesicht ist schwer zu lesen, stellt der Kriminalhauptkommissar fest. Nicht die geringste Gefühlsregung ist erkennbar. Die braunen Knopfaugen sind ausdruckslos geradeaus gerichtet. Perle erweckt den Anschein ins Leere zu stieren. Dessen ungeachtet sind ihre Sinne scharf gestellt. Nichts entgeht ihr.
„Darf ich eine Frage an sie richten, Herr Professor?“, erkundigt sich Ronny Mittler. „Bitte gerne. Womit kann ich dienen?“ „Der verstorbene Thilo van der Leuwen trug wegen Fraktur des Handgelenks Gips am rechten Arm.“ „Das ist richtig.“ „War er trotz des Handicaps in der Lage, einen Knoten zu binden?“ „Einen Knoten? Wie kommen sie darauf?“ Der Professor zeigt sich überrascht. „Konnte er?“, fragt Mittler nach. „Selbstverständlich. Das ginge zwar nicht flott wie gewohnt, dennoch ist es möglich.“
Doktor Harr wendet sich an Oberschwester Kill. „Ulrike, was sagen sie? War Thilo mit Gips in der Lage Knoten zu binden?“ „Herr van der Leuwen war motorisch eingeschränkt, aber dass schaffte er.“ Ulrikes raue Stimme dröhnt, dennoch bewegen sich ihre Lippen beim Sprechen nur minimal.
„War der Patient depressiv?“ Mittler stellt die Frage in den Raum, schaut beide an. In Schwester Kills Gesicht erkennt er keine Regung. Sie schweigt. Harr ringt um Antwort.
„Herr Hauptkommissar, ich bin unsicher, ob ich zu Auskunft verpflichtet bin. Datenschutz. Patientenschutz. Ärztliche Schweigepflicht und dergleichen. Sie verstehen? Heutzutage wird man schneller verklagt, wie man seinen Namen ausspricht. Sie wissen, wie es heißt: Ist der Ruf erst ruiniert .... Wie gesagt.“
„Ich möchte sie einen Moment unter vier Augen sprechen.“, bittet der Kriminalhauptkommissar. „Ist das möglich?“ Oberschwester Kill zeigt eine menschliche Reaktion. Die Knopfaugen weiten sich, ihre Kinnlade klappt herunter. Der Mund formt ein „O“. „Ulrike, sind sie so freundlich?“ Ihr Chef weist mit einer Hand Richtung Tür. Schwester Kill dreht auf dem Absatz um, stampft aus dem Zimmer. „She is not amused!“, kommentiert Harr ihren Abgang.