Mittler will kontern, da klopft es an die Zimmertür und unterbricht ihre Alberei. Ein Herr in Arztkittel tritt ein. Mit leicht vorgebeugtem Oberkörper und auf dem Rücken verschränkten Armen bewegt sich der Mann mit Trippelschritten zum Krankenbett. Eine pummelige Krankenschwester begleitet ihn. „Moin zusammen.“, grüßt der Arzt. „Freudiges Gelächter dringt in meine Ohren. Schön. Sehr schön. Lachen ist immer noch die beste Medizin, nicht wahr? Ich diagnostiziere, damit befinden sie sich auf dem Weg der Besserung! Schön. Sehr schön.“
„Moin.“, antwortet Mittler. „Wenn sie das sagen, Herr Doktor, dann muss es wohl stimmen.“ Der Kriminalist betrachtet den Mann. Tastet ihn von Kopf bis Fuß mit den Augen ab. Auf 60 Jahre taxiert er ihn. Auf der Nasenspitze jongliert er eine Nickelbrille. Das Modell wirkt aus der Zeit gefallen. Es erinnert an Ex-Beatle John Lennon, der eine Ebensolche trug. Das antike Nasenfahrrad des Professors ist zweifelsfrei vierzig Jahre alt. Annehmbar, dass er die Brille bereits als Student besaß. Der Arzt schaut aus braunen Augen in die Welt. Darüber wuchern dichte buschige Brauen. Von seinem eckigen Schädel stehen in sämtliche Richtungen graue Haare ab. Sie schreien nach Kamm, Bürste und professioneller Behandlung. Die eigenwillige Frisur erinnert Ronny Mittler an einen geplatzten Kanarienvogel. Und an den britischen Premierminister Boris Johnson, was kaum einen Unterschied ausmacht. Am Hals des Doktors baumelt ein Stethoskop. Sein Arztkittel reicht ihm bis zu den Füßen, was unter Umständen daran liegt, dass der gute Mann kaum größer wie 1,65 m ist. In der Brusttasche stecken 4 Kugelschreiber! Darüber prangt ein silberfarbenes Namensschild.
ZENTRALKLINIK GEORGSHEIL
Prof. Dr. med. H. Harr
„Ich darf mich vorstellen.“, leitet er seine Präsentation ein. „Harr, lautet der werte Hintername. Vorne heißt es Hermann. Macht zusammen Hermann Harr. Professor Doktor med..“ Elegant deutet er eine Verbeugung an. „Ich leite diese Station. Hilfreich zur Seite steht mir meine Perle Oberschwester Ulrike Kill. Wo steckt sie?“
Die pummelige Frau hält sich bis zur Namensnennung hinter ihm auf. Nun tritt sie aus seinem Schatten. Zu der Zeit wo Harr das Hohelied über Perle sang, verzog die Gelobte nicht ansatzweise ihre Mine. Als ginge sie sein Geschwätz nicht das mindeste an ignorierte sie es. Keine Gefühlsregung war in ihrem Mondgesicht abzulesen.
„Moin“ grüßt sie mit rauer Stimme. Mehr trägt sie nicht zum Gespräch bei. Unaufgefordert macht sie sich nützlich. Überprüft medizinische Gerätschaften. Schaut hier. Kontrolliert dort. Gibt sich geschäftig.
„Oberschwester Ulrike ..., gute Seele der Station!“, nuschelt Professor Harr grübelnd. „Ich wüsste nicht, wie der Laden ohne sie funktionieren sollte!“ Er lacht zweimal kurz hintereinander, was dem Kläffen eines Hundewelpen ähnelt. Mittler erkennt keinen Witz und wundert sich. „Ulrike.“, näselt der Doktor wiederholt. „Gute Seele. Wie gesagt. Schön, schön.“
Dr. Harr zieht Mittlers Patientenblatt aus einem Kästchen, das am Bett angebracht ist und murmelt: „Die jungen Damen verlassen jetzt bitte das Zimmer. Patientenschutz, Datenschutz und dergleichen. Sie verstehen? Wie gesagt. Schön, schön. Auf Wiedersehen.“ Die angesprochenen Kommissarinnen schauen sich vielsagend an. Lena winkt ihrem Chef lächelnd zu. „Bye-bye. Wir gehen dann mal. Morgen besuchen wir dich wieder Ronny. Mach es gut.“ „Mach es besser!“, schließt sich Merle an. „Tschüss ihr zwei. Danke für alles.“ Bei der Zimmertür dreht sich Merle um. „Mir fällt gerade ein, sollen wir irgendetwas mitbringen?“ „Ja gerne! Wenn möglich, das neue Lustige Taschenbuch.“ „Okay, geht klar.“ Die Frauen verlassen das Zimmer.
„Sie schmökern Comics?“, erkundigt sich Professor Harr. „Ja. Ein Überbleibsel aus der Kindheit. Hinübergerettet in die Erwachsenenwelt.“ „Aha! Schön. Sehr schön. ... Nett. ... Ein Rudiment der Vergangenheit und dergleichen. ... Ein Hobby ... wie Modelleisenbahn. ... Nur zum Lesen. Schön. Schön. Wie gesagt.“ Weiter äußert sich Professor Doktor Harr nicht zu Comics, Kindheit und Reliquien. In Gedanken versunken studiert er das Patientenblatt.
Obwohl Modellbau zu Mittlers Hobbys zählt, greift er das Thema nicht auf. Es drängt ihn zwar, profunde Sachkenntnis kundzutun, aber der Mediziner macht nicht den Eindruck, des passenden Gesprächspartners. Doktor Hermann Harr führt ein Arztgespräch. „Face-to-Face-Kommunikation.“, tituliert er die Konsultation. „Darauf hat ein Privatpatient Anspruch. Wie gesagt! Ein Fachgespräch und dergleichen. Von Arzt zu Patient. Wie es sich gehört! Schön. Schön. ... Nun denn. Ein Blinddarmdurchbruch ist die Eskalation einer Blinddarmentzündung. Der Wurmfortsatz platzt. Der Darminhalt gelangt in die Bauchhöhle. Das kann zum Exitus führen!“
Bildhaft doziert Professor Harr über die fachgerechte Entfernung des Blinddarms. Mittler, der es gar nicht so detailliert wissen möchte, denkt zur Ablenkung ganz fest an Donald Duck, Modelleisenbahnzüge und Einhörner, die mit Delfinen schwimmen.
Der Erhängte.
„Hallo? Herr Mittler?“ Krankenschwester Friederike steht am Bett des Kommissars und stupst ihn an der Schulter. „Bitte wachen sie auf.“
Friederike stellte sich ihm vor, wo sie ihren Nachtdienst antrat. Eine zierliche Person mit schwarzem Zopf. 1,65 m groß. 25 Jahre alt. Eine Weile unterhielten sie sich. Später servierte sie Abendbrot. Erklärte, wie das TV-Gerät bedient wird. Koppelte sein Smartphone mit dem Ladegerät. Friederike ist freundlich, hilfsbereit, höflich, eifrig, andernteils schüchtern und kindisch.
„Was ist denn?“, murmelt der aus dem Tiefschlaf gerissene. „Können sie ganz schnell mitkommen?“ „Was? Jetzt?“ „Bitte. Herr Mittler!“ „Wie spät ist es?“ „3 Uhr 10.“ „Oh je. Ich hoffe, es gibt plausible Gründe mich zu wecken!“ „Da ist ein Toter.“
Der Kriminalhauptkommissar glaubt, nicht richtig zu hören. Augenblicklich ist er hellwach. „Was?“
„Ein Mann. Ein Patient. Er hat sich erhängt!“ „Wo?“ „Im Treppenhaus! Kommen sie. Ich zeige es ihnen.“, drängt Friederike. Fahrig zieht sie ohne Vorwarnung die Bettdecke weg. „Ich helfe ihnen beim Aufstehen.“ Vor dem Bett steht ein Rollstuhl. „Sie haben an alles gedacht!“, wundert sich Mittler und richtet sich mit ihrer Hilfe auf. „Ich weiß doch, dass sie nicht gut gehen können, so kurz nach der OP.“
Schwester Friederike steuert den Rollstuhl auf den Flur und schlägt den Weg zum Treppenhaus ein. Vor der Glastür zum Hausflur stehen drei Verkaufsautomaten. Süßwaren. Limonade. Heißgetränke. Es ist dermaßen still im Haus, das man ihre Aggregate summen hört. Im Moment, wo sie daran vorbei kommen, erfasst sie ein Bewegungsmelder. Automatisch schwingt die Glastür auf. Friederike schiebt den Rollstuhl im Treppenhaus an die Brüstung.
„Sehen sie?“ Die Krankenschwester zeigt auf ein Seil. Es ist am Handlauf des Treppengeländers verknotet. Ein Kletterseil, schießt es Mittler durch den Kopf, wo er das blau-schwarz gefärbte Kunststoffseil erblickt. Der Strick ist mehrmals um das Geländer gewickelt und mit Knoten befestigt. Das übrig gebliebene Seilende bildet auf dem Boden einen kleinen Haufen.
Mittler erhebt sich mit