Die Grenze. Leon Grüne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leon Grüne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170472
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einem Male begann der Mann, dessen Gesicht von mehr Furchen durchzogen war als ein alter Baum, den Mund aufzumachen und zu einer widerwärtig grinsenden Fratze zu verziehen. Hinter ihm tauchten zwei Lichtkegel die Straße in ein strahlendes Weiß und blendeten Kris.

      „Was wollen Sie?“, fragte er noch einmal laut und hielt sich schützend die Hand vor die Augen.

      „Doktor?“, fragte eine ihm angenehm vertraute Stimme besorgt.

      „Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Wieso steht ihr Wagen quer auf der Straße?“

      Blinzelnd öffnete er die Augen und sah Frank Lehmann, einen seiner Patienten und außerdem Polizist, vor ihm den Kopf aus der heruntergekurbelten Autoscheibe seines Opels strecken.

       Scheinwerfer und keine mystischen Lichtkegel du Vollidiot. Scheinwerfer. Kein See und keine Aphrodite.

      „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte Frank weiter. Seine Hand wanderte langsam in Richtung seines Gurtverschlusses, um ihn zu öffnen, falls der Doktor Hilfe bräuchte.

      „Nein ich denke ... Nein“, antwortete er desorientiert und drehte sich zu seinem Auto um. Der Fahrersitz sowie der Rest des Wagens waren vollkommen leer.

      „Soll ich Sie lieber nach Hause bringen?“

      Kris trat ein paar Schritte näher an sein Fahrzeug heran. Auch der beißende Geruch von Ammoniak war wie von Zauberhand verschwunden.

      „Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich dachte nur, ich hätte ein Tier angefahren, aber scheinbar hat der Kater noch rechtzeitig das Weite suchen können“, versuchte er sein Verhalten und gleichzeitig auch sein auf der Fahrbahn quer geparktes Auto zu erklären.

      „Hat der Kleine wohl nochmal Glück gehabt“, fügte er noch schnell hinzu und stieg in sein Auto.

      „Sieht wohl so aus. Schönen Abend noch, Doktor“, entgegnete Frank.

      „Ihnen auch, Herr Lehmann“, sagte er eilig, dann lenkte er das Auto gerade und fuhr unter dem skeptischen Blick des Polizisten nach Hause.

      10

      Aufgewühlt wälzte Kris sich im Bett umher. Jede Bewegung, die er machte, verursachte ein weiteres Rascheln der Bettdecke. Er war nicht mehr müde wie vorhin, als er die Praxis abgeschlossen hatte. Jetzt war er hellwach, und sein Kopf arbeitete stärker als am gesamten bisherigen Tag. Links neben ihm lag Merlin und säuselte im Schlaf vor sich hin. Er war vor wenigen Minuten in das Zimmer gekommen und hatte sich zwischen seine Eltern in das große Doppelbett gelegt. Das tat er öfter, wenn er in der Nacht von einem Alptraum wach wurde und nicht alleine sein wollte.

       Kein Problem, mein Großer. Mir gehts auch nicht anders.

      Grübelnd starrte Kris die Zimmerdecke an, die trotz der Dunkelheit für ihn strahlend weiß, wie ein Himmelszelt voller Sterne, über ihm hing. Inzwischen lag er schon so lange wach im Bett, dass er nahezu alles in dem Raum problemlos erkennen konnte.

      Sein Kopf tat weh, aber er wollte nicht aufstehen. Es war wie das Gefühl, das man als kleines Kind hatte, wenn man nachts nicht aus dem Bett steigen wollte, weil man dachte, dass das Monster unter dem Bett hervorkommen und einen verschlingen würde. Es war die stärkste Angst, die man in seinem Leben haben konnte. Kindliche Angst. Auch als Erwachsener gab es sie, nur die Monster, vor denen man sich fürchtete, waren andere.

      Er wandte sich noch ein paar Male hin und her, dann stand er nach einigem Hadern schließlich doch auf und schluckte eine Ibuflam 800 mg mit einem halben Glas Wasser. Müde und nicht gerade sanft, stellte er das Glas auf der Ablage rechts vom Hahn ab und stützte sich mit beiden Händen neben dem Becken ab. Als er merkte wie ihm fast die Augen zufielen, raffte er sich auf und ging zurück ins Schlafzimmer zu seiner Frau und seinem Sohn. Eilig zog er sich die Decke über den Oberkörper und fühlte, wie ihm direkt ein Stein vom Herzen fiel, dass er unbeschadet wieder im Bett lag. Verschwunden war seine eigenartige und ungewohnte Angst jedoch noch nicht, weswegen er näher an seinen Sohn heranrückte, um den Arm um ihn und seine Frau zu legen. Gerade, als ihn das Gefühl von Müdigkeit übermannte, war es ihm, als wenn er in der hinteren Ecke des Raumes den schwachen Umriss einer Gestalt erkennen konnte. Doch bevor er wieder wach genug war, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, schlief er ein und träumte von alten Frauen mit giftgelben Augen, die nach Schwefel stanken und Babys in gestreiften Schlafanzügen mit Roibuschtee und Globuli fütterten.

      11

      An diesem Abend und in dieser Nacht blieb es still. Keine Sirenen ertönten und keine Notrufe wurden aus Dulingen abgesetzt. Als man Diedrich am nächsten Morgen im Badezimmer fand, war es für jede Hilfe bereits zu spät.

      12

      Mit schlurfenden Schritten näherte Kris sich der Tür seiner Praxis. Diesen Morgen war es wieder soweit gewesen, dass er sich zwei Straßen weiter einen Platz suchen musste, an dem er sein Auto abstellen konnte. Seine Armbanduhr zeigte 17 Minuten nach acht an. Er hatte nach einer durchwachsenen und kurzen Nacht verschlafen und kam mit Augenringen, die aussahen, als wenn Merlin ihn mit der schwarzen Farbe aus seinem Wasserfarbkasten von Pelikan angemalt hätte, in die Praxis.

      Schwach stieß er die Praxistür auf und begrüßte Marion, die bereits hinter der Rezeption am Eingang saß.

      „Guten Morgen, Doktor Lindner“, erwiderte sie seine Begrüßung und lächelte ihn förmlich an. Es war ein typisches Lächeln, welches man von einer Mutter im mittleren Alter erwartete. Freundlich und besorgt. Worüber sie sich sorgte? Höchstwahrscheinlich um den Doktor selbst. Sein Gesicht hatte keine gesunde rosa Färbung, wie sie es eigentlich gewohnt war, sondern leuchtete blass und ließ ihn in Kombination mit seinen dunklen Augenringen wie Graf Dracula höchstpersönlich aussehen.

       Alles in Ordnung Frau Kiesing. Nichts worüber Sie sich das Maul zerreißen müssten. Ich bin nicht verrückt. Nicht ich. Keine Lichtkugeln und keine Feen.

      „Wie gehts Ihnen? Viele Termine bis zum Mittag?“, fragte er, um unterschwellig von seinem vermutlich makaberen Aussehen abzulenken.

      „Gut, danke der Nachfrage. Es sind zumindest nicht so viele wie gestern. Manche Leute machen sich Sorgen wegen des Jungen, der am Wochenende gestorben ist, und haben ihre Termine abgesagt“, erzählte sie ihm und wischte sich eine Strähne ihrer kurzen, rot gefärbten Haare aus dem Gesicht. Ziemlich unreif für eine Frau, die innerhalb der nächsten fünf Jahre die 50 erreichen würde, fand Kris, aber er wusste, dass die Diskussion unnötig war. Sie machte ihre Arbeit gut und auch die Patienten sahen sie mit Respekt an. Es störte Kris zwar, aber er wollte nicht spießig sein, da er wusste, dass er Probleme damit bekommen würde, eine seiner MFAs zu behalten, wenn er ihnen vorschreiben würde, wie sie ihre Haare zu tragen oder zu machen hätten. Er konnte es sich nicht leisten, eine seiner Mitarbeiterinnen zu verlieren, da er sich sicher war, dass es schwer sein würde, eine Neue zu besetzen, wenn erstmal erzählt werden würde, was der Herr Doktor doch für ein spießiger Tyrann sei. Aus diesem Grund verhielt er sich diplomatisch und sagte schlichtweg nichts zu Marions Haaren, Ninas Tattoo am rechten Unterarm oder Lines Nasenpiercing.

       Ich bin nicht der Verrückte hier! Das könnt ihr vergessen!

      „Es wird immer Leute geben, die sich Sorgen mache und Gerüchte erzählen, Frau Kiesing. Das wird sich mit Sicherheit genauso schnell legen, wie es gekommen ist“, sagte er und ging rechts am Tresen vorbei in sein Sprechzimmer. Gelangweilt öffnete er die Tür und trat in den kühlen, leeren Raum. Er streifte seine Jacke ab und hing sie an den Kleiderständer, der neben der Tür stand. Grade, als er zu dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch gehen wollte, hielt er in der Bewegung inne und