Die Grenze. Leon Grüne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leon Grüne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170472
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sich an den Kopf schlagen und feststellen, dass wir alles andere als intelligent sind.

      Nachdem Merlin seinen Kakao ausgetrunken hatte, verzog er sich in sein neues Zimmer und begann seine Playmobilfiguren aus dem großen Umzugskarton auszuräumen. Eine Stunde später, als Juleen nach ihm sehen wollte, fand sie ihn eingeschlafen auf dem Fußboden neben seinen Figuren liegen. Vorsichtig hob sie ihn hoch und legte ihn in sein Bett, wobei er kurzzeitig verwirrt die Augen öffnete, aber sie sofort wieder schloss und weiterschlief. Liebevoll küsste sie ihn auf die Stirn, dann ging sie zurück ins Wohnzimmer, wo Kris grade, sichtlich fertig mit dem Unterschreiben sämtlicher Dokumente, dabei war seine prall gefüllte Ledermappe zu schließen.

      „Und? Was macht er?“, fragte Kris mit einem erleichterten Seufzen und griff nach seiner Tasse mit Kaffee. Es war bereits die Vierte, die er trank.

      „Er ist eingeschlafen“, sagte Juleen mit einem Lächeln auf den Lippen und setzte sich auf den Stuhl gegenüber von ihrem Mann.

      „Gut. Ich hatte Sorge, dass wir ihn heute wegen der ganzen Aufregung gar nicht ins Bett bekommen würden“, sagte er, wobei er ihr Lächeln müde erwiderte.

      „Ich glaube, er steckt die Aufregung echt gut weg. Wir können wirklich stolz auf ihn sein.“

      „Ja das stimmt“, antwortete Kris. Das Lächeln verschwand langsam aus seinem Gesicht, und er starrte nachdenklich auf die Holzmaserung des Tisches.

      „Was ist los?“, fragte Juleen besorgt und strich ihm seine dunklen Haare von der Stirn, wie bei einem Kind.

      „Nichts weiter“, entgegnete er und lächelte sie gezwungen an.

      Sie erwiderte sein Lächeln nicht. Sie wusste, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Sie waren schon zu lange zusammen, als dass er sie mit so einer billigen Ausrede abspeisen konnte. Früher einmal hatte sie es sich gefallen lassen, dass er nicht mit ihr über manches reden wollte, das ihn bedrückte, aber inzwischen hatte sich das geändert. Inzwischen waren sie verheiratet und hatten einen gemeinsamen Sohn. Es wäre mehr als unfair, ihr nicht zu sagen, was mit ihm los sei. Das könne er mit jemand anderem, jemand Unbedeutenderen für ihn machen, aber nicht mit ihr. Fragend und mit einem Blick, der mehr als genug sagte, musterte sie ihn sorgfältig.

      „Was soll das?“, fragte sie schließlich, nachdem er immer noch keine Anstalten machte, seinen niedergeschlagenen Blick zu erklären.

      „Was soll was?“

      „Du verheimlichst mir etwas.“

      „Wie kommst du denn darauf?“, fragte er und schmunzelte verlegen, wodurch er sich endgültig enttarnte.

      „Bitte hör auf, mir etwas vormachen zu wollen, Schatz. Ich weiß doch, dass dich etwas bedrückt. Ist es wegen des Jungen? Ben Klein oder so ähnlich.“

      „Ben Kleinert. Ja es ist wegen ihm. Ich verstehe einfach nicht, wie das passieren konnte“, gab er zu und griff hilfesuchend nach ihrer Hand. Sie ließ ihn gewähren.

      „Der Junge war kerngesund. Er hatte gar keine Beschwerden. Er war nicht krank. Er hatte ja nicht mal eine Allergie.“

      Ben Kleinert, der zehnjährige Junge, wegen dem am vergangenen Samstag in der Nacht die Sirene losgegangen war, war Freitag erst noch bei ihm in der Sprechstunde gewesen. Nicht aus einem besonderen oder drastischen Grund, sondern bloß zu seiner Jugendschutzuntersuchung 1. Das bedeutete eine körperliche Untersuchung sowie eine Urinprobe und das Ausfüllen eines Fragebogens zur allgemeinen Befindlichkeit. Nichts Hochkomplexes. Alles war unauffällig ausgefallen.

      „Menschen sterben halt…“, versuchte Juleen ihren verzweifelten Mann zu trösten, doch der ging kein Stück darauf ein.

      „Alte Menschen sterben halt. Menschen mit unheilbaren Krankheiten sterben halt. Menschen im Koma sterben halt. Aber ein zehnjähriger, kerngesunder Junge stirbt nicht einfach so, nachdem er eingeschlafen ist!“

      Nachdenklich sah sie ihrem Mann in die Augen. Sie wollte ihm widersprechen, aber das ging nicht. Sie wusste, dass er Recht hatte. Ben war laut der Aussage seines Vaters wie jeden Abend von ihm ins Bett gebracht worden und fast sofort eingeschlafen. Nachdem er wenige Minuten neben seinem vermeintlich schlafenden Sohn saß, war ihm aufgefallen, dass sich sein Brustkorb nicht mehr hob und er keine Luft mehr durch die Nase oder den Mund ausstieß. Panisch hatte er nach seinem Puls getastet und feststellen müssen, dass er keinen mehr besaß, woraufhin er ohne zu zögern den Rettungswagen gerufen hatte.

      „Ich verstehe einfach nicht, wie das passieren konnte“, wiederholte er sich und sah Juleen überfordert an.

      Doch auch sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Das ganze Thema war ihr unangenehm. Sie erlebte es selten, ihren Mann verzweifelt und schwach zu sehen, aber wenn sie es sah, dann jagte es ihr einen regelrechten Schauer über den Rücken. Normalerweise war Kris ein selbstbewusster und starker Mann, aber wenn er verzweifelt war, dann wirkte er fast wie ein kleines, weinerliches Kind, das mal wieder in der Schule gemobbt wurde und sich nun bei seiner Mutter ausheulen würde, während sie sich im Stillen fragen würde, was sie in ihrem Leben nur falsch gemacht hätte, um jetzt so dazustehen. Verlegen senkte sie den Blick auf das leere Glas vor ihr. Sie wollte nicht, dass ihre Illusion eines starken und unerschütterlichen Mannes an ihrer Seite zerstört wurde. Nicht heute. Eine ganze Weile saßen sie noch schweigend am Tisch und lauschten der Musik, die aus dem alten Radio hinter ihnen mit gelegentlichen Störungen lärmte. Keiner der beiden schlief heute Nacht besonders gut.

      5

      Mit gesenktem Kopf betrat Jonas Kleinert das Schulgebäude. Am Freitag würde sein kleiner Bruder seinen letzten Weg unter die Erde finden, und er war alles andere als bereit dafür. Noch am Freitagmorgen hatte ihr Vater sie mit Tickets für das Fußballspiel von Hannover 96 am nächsten Wochenende überrascht. Es wäre das zweite Fußballspiel gewesen, das Jonas sich im Stadion angesehen hätte. Für Ben wäre es das Erste gewesen. Sein Vater hatte die Karten am Montag an Freunde verschenkt. Ihm war die Lust auf das Stadion vergangen. Allerdings wäre es vielleicht die Ablenkung gewesen, die ihnen allen gutgetan hätte, aber wer wollte, beziehungsweise konnte schon abgelenkt werden, wenn es um den unvorhergesehenen Tod des eigenen Kindes gehen würde. Niemand, der auch nur einen Funken Liebe für seine Kinder übrig hatte, verschmerzte so etwas leichtfertig, und Ben und Jonas Eltern hatten eine Menge Liebe für sie übrig. Folglich waren auch die Schmerzen der beiden von beträchtlichem Ausmaß.

      Seitdem der Arzt im Krankenhaus Ben offiziell für tot erklärt hatte, liefen alle, sowohl seine Eltern als auch Jonas, in einer eigenen Gefühlsglocke mit der Stabilität von Obsidian, einem Vulkangestein, herum. Man konnte von außen hineinsehen und erkennen, wie es ihnen ging, aber hineingelangen, um ihnen zu helfen oder sie gar hinauszuziehen, war unmöglich. Sie isolierten sich selbst in ihre eigene unerreichbare Gefühlswelt. Sie verließen sie nicht einmal, um sich um ihren anderen, noch lebenden Sohn zu kümmern. Jeder lebte von da an quasi für sich alleine und empfand nicht einmal das eigene Leben noch länger als lebenswert.

      In der ersten großen Pause setzte Jonas Kleinert sich auf einen der großen Steine, die wie im Kreis neben der Schulkantine angeordnet waren, und ließ den Kopf in seine verschränkten Arme sinken.

      „Hey Jonas“, sagte Mark, ein guter Freund von ihm, vorsichtig und setzte sich zu ihm auf den Stein. Er antwortete nicht, sondern drehte sich noch ein Stück weiter von ihm weg. Respektvoll akzeptierte Mark sein Schweigen, blieb einfach stumm neben ihm sitzen und legte ihm die Hand auf die Schulter. Zumindest stieß er sie nicht weg. Scheinbar wollte er nicht tatsächlich alleine sein, sondern nur nicht reden. Das war in Ordnung. In einer Freundschaft musste man manchmal dem Anderen einfach etwas Freiraum geben, ohne ihn dabei komplett allein zu lassen. Manchmal tat es gut einfach schweigend nebeneinanderzusitzen, ohne in Not zu sein etwas sagen zu müssen. Manchmal sagte Stille schon genug aus.

      „Ey Jungs seht mal, was wir da haben. Ne Schwuchtel“, lachte Erik dreckig und stieß seinem Kumpel in die Seite. Erik war das Alpha Tier des siebten Jahrgangs und