Unmotiviert in knapp zwei Stunden wieder dort hinter dem Schreibtisch gegenüber einer seiner Patienten zu sitzen, erhob er sich von seinem Stuhl, nahm seine Jacke vom Haken und schloss die Tür seines Sprechzimmers hinter sich ab. In dem Moment, in dem er die Praxis durch die weiße Fronttür verlassen wollte, klingelte hinter der Rezeption das Telefon. Einen Moment hielt er inne und blickte sich zum Apparat um, der hinter dem 1,40 m hohen Tresen stand. Nachdem er hörte, dass der Anrufbeantworter den Anruf entgegennahm, schaltete er das Licht aus und verließ die Praxis für zwei Stunden.
Um Punkt vier Uhr öffnete Marion die Praxis von Dr. Kris Lindner wieder und hing ihre Jacke mitsamt ihrem Schal an die Garderobe im Eingangsbereich. Sie war eine der vier Medizinischen Fachangestellten - kurz MFA - die für ihn in der Praxis arbeiteten. Gemächlich setzte sie sich auf den runden Schreibtischstuhl ohne Rückenlehne und hörte die ersten Nachrichten von der Mailbox ab.
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2009 hatte Diedrich Erhard die letzten Tauben in Dulingen gesehen. Jeden Freitag um zwölf Uhr hatte er sich mit einer Tüte Sonnenblumenkerne vor den Supermarkt auf die grün gestrichene Holzbank, von der die Farbe langsam abblätterte, gesetzt und abwechselnd sich und die Tauben mit Sonnenblumenkernen versorgt. Brot durfte er ihnen nicht geben, da es in ihren Mägen gären und ihnen so schaden könnte. Nachdem ihn sein ehemaliger Freund Julius Liebenbröck, der vor wenigen Jahren den friedlichen Tod des zu hohen Alters gestorben war, in die hohe Kunst des Taubenfütterns eingeweiht hatte, hatte er so allerlei Kenntnisse darüber erlangt, wie er sie richtig füttern musste. Getrocknete Erbsen, Popcornmais, Sonnenblumenkerne, roher Naturreis sowie Weizen- und Dinkelkörner eigneten sich besonders gut zum Verfüttern, verarbeitete Lebensmittel mit vielen Kohlenhydraten und Salz hingegen ganz und gar nicht. Im Herbst 2008 hatte die Gemeinde beschlossen, das Füttern von Tauben zu verbieten, da der Kot der Tiere die Stadt übermäßig verunreinigte und sie zudem Parasiten und Krankheiten übertrugen. Anfang des Jahres, noch zu der Zeit von Dr. Beram, waren drei Menschen in Dulingen an Typhus erkrankt. Die Gemeinde gab dem übermäßigen Bestand von Tauben und deren Fäkalien die Schuld an den schweren Durchfallerkrankungen. Seitdem war das Füttern von Tauben verboten und wurde mit einem Bußgeld von bis zu 3.000 Euro geahndet. Daher saß Diedrich jeden Freitag auf der Bank vor dem Supermarkt, von der langsam die grüne Farbe abblätterte, und aß alleine aus seiner Tüte mit Sonnenblumenkernen. Die Tauben waren so etwas wie seine letzten Freunde gewesen, die ihm noch Spaß bereiten konnten. Doch nun waren auch sie, wie der Rest seiner Freunde und seine Frau, fort und kamen nicht wieder. Zehn Jahre war er nun allein gewesen. Doch wer weiß. Vielleicht würde er sie schon bald alle wiedersehen.
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Klackend landete die Tür des kleinen Hauses in der Neuenburger Straße im Schloss. Leise zog Erik seine Schuhe aus und hängte seine Jacke an den Haken über dem Schuhregal. Seine Jeans – Größe 32 / 34 – war hinten vom Hosenbund abwärts mit getrockneter Erde verschmutzt. Sie war schmutzig geworden als Mark, dieser kleine Hurensohn, ihn in den Dreck geschubst hatte. Dafür hatte er ihm zwar eine verdiente Abreibung verpasst, aber an seiner mit Erde verunreinigten Hose änderte das, außer, dass Mark sie zudem mit ein paar Blutflecken an den Oberschenkeln versehen hatte, verhältnismäßig wenig. Eilig, aber immer noch mit möglichst geringer Lautstärke verschwand er im Badezimmer und warf seine Hose in den Wäscheeimer, wo er sie unter ein paar T-Shirts vergrub, damit sie seinem Vater nicht sofort ins Auge fallen würde.
Eigentlich hatte er überhaupt keinen Grund, einen Blick in den Eimer zu werfen, wo das Waschen doch Aufgabe der Frauen und nicht des Hausherren sei. Wofür hatte man das Weibsbild schließlich im Haus, wenn es sich nicht um das Waschen, das Kochen und das Putzen kümmerte? Um sich belehren zu lassen? Harald brachte der Gedanke jedes Mal aufs Neue zum Lachen, wenn jemand von gebildeten oder intellektuellen Frauen sprach. Weiber waren nicht dafür da, schlaue Sprüche zu bringen von Sachen, die sie entweder nichts angingen oder nicht verstanden. Sie gehörten hinter den Herd, in die Besenkammer und in jeden anderen Raum, höchstens mit einem Putzlappen oder dem Staubsauger in der Hand. Und selbstverständlich gehörten sie darüber hinaus noch in das Bett des Ehemannes, um ihm jedes Mal, wenn ihm danach war, einen guten Fick zu geben.
Derjenige, der auf die Idee gekommen war, den Frauen damals ein Mitspracherecht an den Entscheidungen in der Welt zu geben, musste ohne jeden Zweifel eine verdammte Schwuchtel gewesen sein, die ihr Bier abends in der Kneipe mit einem feuchten Kuss auf den Zauberstab des Wirtes bezahlte, anstatt in barer Münze. Harald mochte Schwuchteln nicht, aber noch viel weniger mochte er es, wenn sein Sohn mit schmutziger Hose und dreckigem Gesicht nach Hause kam. Denn wenn er mit Dreck an den Klamotten zuhause auftauchte, bedeutete das für seinen Vater, dass er sich geprügelt und zudem auch noch verloren hatte. Harald konnte es natürlich nicht auf sich sitzen lassen, dass sein Sohn die Stärke des männlichen Geschlechts seiner Familie ins Lächerliche zog, also musste er ihm bisweilen immer wieder aufs Neue seine Lektionen erteilen, dass er bloß nicht vergaß, dass eine Niederlage nichts war, womit er sich zufriedengab. Seine Lektionen, die er mit dem Gürtel oder einer alten Reitgerte erteilte, dauerten in den häufigsten Fällen ein paar Minuten und hinterließen meist farbenfrohe Blutergüsse auf dem Körper seines vierzehnjährigen Sohnes. Schwäche war etwas, das Harald mindestens genauso verabscheute wie Frauen, die in dem Irrglauben lebten, sie seien relevant und gleichberechtigt. Auch Jesus hat sich die Füße von euch küssen und den Schwanz blasen lassen und ist trotzdem als Heiliger Geist in den Himmel aufgestiegen oder so ähnlich.
Mittlerweile hatte Erik sich eine Jogginghose angezogen und sich mit seinem Ranzen in der Hand nach oben in sein Zimmer begeben, um für den Rest des Tages die Tasten auf dem Controller seiner Playstation zu bearbeiten. Nachdem er zwei Stunden damit verbracht hatte, in der simulierten Version des Zweiten Weltkriegs Zielpunkte einzunehmen, brüllte sein Vater von unten energisch.
„Erik!“, rief er wütend und kam donnernd die Treppen hoch. Erschrocken ließ er den Controller aus der Hand fallen und drehte sich wie vom Hafer gestochen herum. Noch bevor er überhaupt wusste, auf was er sich einstellen musste, flog die Tür auf und sein Vater stand mit streitlustigem Blick im Türrahmen.
„Das ist doch wohl hoffentlich nicht deine Hose, oder etwa doch?“, fragte er und präsentierte ihm das verdreckte Kleidungsstück, das er in der Hand hielt.
„Antworte mir!“, befahl er seinem kreidebleichen Jungen, der mit einem Male alle Lust auf sein Videospiel verloren hatte.
„Ja ...“, antwortete er kleinlaut.
„Sprich gefälligst lauter!“
„Ja.“
„Was ist passiert? Wer war das?“, fragte Harald mit messerscharfem Unterton. Eine schmierige Haarsträhne hing ihm vor der Stirn und wippte im Takt seiner Worte auf und ab.
„Ich wurde geschubst“, gab Erik schüchtern zu. Er war froh, dass niemand aus der Schule ihn so sah. Dann wäre es mit seinem Ruf als starker Junge, vor dem man sich fürchten müsste, vorbei gewesen. Man würde mit Fingern auf ihn zeigen und ihn als Weichei und Pussy verhöhnen, wenn er die Flure entlangging. Zum Glück würde es nie jemand erfahren, dass er in Wahrheit genauso ein Opfer seines Vaters war, wie Mark und Jonas die seinen waren.
„Von wem?“
Erik traute sich nicht zu antworten. Er wusste, dass sein Vater Mark und dessen Familie kannte, und er wusste auch, dass er ihn für einen vollkommenen Versager halten würde, wenn er ihm beichten würde, dass er es war, der ihn geschubst hatte.
„Von wem hab ich gefragt!“,