Die Grenze. Leon Grüne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leon Grüne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170472
Скачать книгу
Frank in seinem Fall hauptsächlich bei einem guten Scotch oder Bourbon. Verheiratet war er nicht, was ihn zugleich für Frank noch eine Spur sympathischer machte. Genau wie Frank war auch Ivan kein Fan von dem Gedanken an eine Frau gebunden zu sein und diverse damit einhergehende Verpflichtungen auferlegt zu bekommen. Die Heirat war für sie nichts anderes als Ketten, die man ihnen anlegen und sie so von den Freuden des Lebens abhalten würde. Es war ein überaltertes Konzept, das in der heutigen Zeit sowohl weniger Wert als auch Aussagekraft hatte. Heutzutage heiratete man, wenn man es schaffte, eine Woche nicht zu streiten, man bereits drei Monate zusammen in einer Beziehung lebte oder nur, weil man vergessen hatte zu verhüten und ein Kind in Erwartung war. Teilweise machte man sich sogar einen Spaß daraus oder ging so weit, eine wildfremde Person nur für eine niveaulose Sendung auf RTL 2 zu ehelichen.

      Früher einmal ist die Heirat zweier Menschen etwas Bedeutsames und Prägendes gewesen. Man schuf Bündnisse durch Eheschließungen mit einem anderen Adelshaus und erlangte so Macht und Prestige in der Gesellschaft. Es war ein riesiges Fest mit einem Bankett, von dem man wahrlich nur träumen konnte, und anschließend ging man sicher, dass der Gatte auch wirklich die Ehe mit seiner Frau Gemahlin vollzog, damit sie den beiden einen Sohn gebar und somit die Existenz der Dynastie sichern würde.

      Besonders wichtig war außerdem die Jungfräulichkeit des weiblichen Parts, die sie in der Hochzeitsnacht, und nur dann, verlieren sollte. Was früher noch als schändlich und unsittlich galt, war in heutigen Zeiten das Normalste der Welt. Es war nicht verwerflich, wenn eine Frau bereits vor ihrer Hochzeit bereits mit ein oder zwei – in moderneren Zeiten eher drei und mehr – Männern geschlafen hatte. Meistens war es sogar ungewöhnlich oder erzeugte ein abwertendes Runzeln auf der Stirn, wenn man bis zur Heirat noch nicht seine Unschuld verloren hatte. Schließlich solle man sich ja ausprobieren und dürfe nicht blind in die Ehe hineingehen. Ziemlich paradox, so etwas aus derselben Generation zu hören, die sich geradezu danach verzehrte in eine fleischliche Beziehung zu gelangen und dabei jede Form der Logik und des Denkens ignorierte. Die Unbeflecktheit, die früher so eine große Rolle spielte, wurde heutzutage von einem selbst frühestmöglich an den Meistbietenden verschachert und dann wie ein rohes Stück Fleisch zerfetzt, nur um dann mit einem kalten, erniedrigenden Blick abgewehrt zu werden.

      Die Welt hatte an Würde und Edelmut verloren, dachte Frank und musste scherzhaft an die „edelmütigen“ Männer des Glaubens denken, die es trotz ihrer Keuschheit geschafft hatten, Kinder in die Welt zu setzen.

      Vielleicht war die Welt nicht weniger würdevoll oder edelmütig geworden, sondern einfach offener, toleranter und ehrlicher als zu damaligen Zeiten.

      „Dann machen wir uns besser mal auf den Weg, nicht wahr?“, fragte Frank und speicherte den zur Hälfte fertigen Bericht auf dem Computer ab. Entspannt und ohne Eile verließen sie das Gebäude und setzten sich in den Streifenwagen. Als Frank den Motor startete, dachte er an die Bilder von den Konzentrationslagern, Hitler und den Nazis, 9/11 und den Anschlägen von Hanau und Halle und stellte fest, dass die Welt alles andere als toleranter, offener und ehrlicher geworden war.

      15

      20 Minuten später kamen Frank und Ivan an dem Supermarkt in Dulingen an. Die Wolkendecke hatte sich noch ein Stück weiter zugezogen und ließ kein Sonnenlicht durch ihren depressiv grauen Schleier hindurchschimmern. Vereinzelte Regentropfen fielen auf das Autodach des Polizeiwagens herunter und erzeugten ein leises, altbekanntes, metallenes Klopfen. Leicht fröstelnd zog Frank seine Jacke zu und steckte die Hände in die Taschen, als er sich mit seinem Kollegen auf den Weg in das Gebäude machte. Schon am Eingang erkannten sie den völlig aufgewühlten Mitarbeiter, der sich hilfesuchend – möglicherweise auch eher paranoid – nach allen Seiten umblickte und bereits von einem der anderen Angestellten beruhigt wurde. Zumindest schien er es zu versuchen. Scheinbar ziemlich erfolglos.

      „Guten Tag“, begrüßte Frank die beiden freundlich und unvoreingenommen.

      „Ah, sehr gut, die Polizei ist da“, sagte der aufgewühlte Mann und machte sofort ein paar schnelle Schritte auf ihn zu.

      „Ich bin bereit, eine vollständige Aussage zu machen und Ihnen den Mann zu beschreiben. Wenn es hilft, mache ich Ihnen hier und jetzt eine Phantomzeichnung. Ich ... ich kann sowas. Ich bin freiberuflicher Künstler. Zugegeben im Bereich von Comic und Karikaturen, aber ich bekomme das hin, versprochen! Geben Sie mir nur einen Stift und ich zeige Ihnen ...“, stammelte der hagere Mann mit Akne im Gesicht und gestikulierte dabei nervös mit seinen Armen.

      „Ganz ruhig Dominik, alles wird gut. Atme ruhig ein und wieder aus. Alles wird gut“, versuchte der andere, etwas jüngere Mann, ihn zu beschwichtigen und legte ihm beruhigend seine Hand auf die Schulter.

      „Du kannst mich mal mit deinem dämlichen ‚atme ein‘!“, entgegnete er aufgebracht und stieß seine Hand von sich weg. Einige der Kunden drehten sich neugierig und überrascht zu ihm herum und begannen leise zu tuscheln.

      „Beruhigen Sie sich erstmal!“, brachte Frank die Debatte zum Schweigen. Melkovich stand teilnahmslos neben seinem Freund und starrte Löcher in die Luft. Jeder tat das, was er am besten konnte. Frank kümmerte sich um das Reden und Ivan stand daneben und setzte stumm seinen strengen und kontrollierenden Blick auf, der durch die scharfen Kanten seines Kiefers noch besser zur Geltung kam. In Szenarien wie diesen waren sie ein eingespieltes Team. In einem Verhör würde Frank die Rolle des sogenannten „Good Cop“ und Ivan die des „Bad Cop“ einnehmen. Zwar hatten sie noch nie eines geführt, da sie bloß Streifenpolizisten waren, aber auch so war die Verteilung dieser Rollen mehr als eindeutig zu erkennen.

      „Was ist hier passiert?“, fuhr er fort, nachdem die beiden Männer verstummt waren und ihn kleinlaut ansahen. Wenn man ihr Alter miteinander addieren würde, wären sie wahrscheinlich immer noch jünger als ich, dachte Frank und stöhnte verzweifelt innerlich auf.

      „Hier war ein Verrückter! Der muss geisteskrank gewesen sein! Wahrscheinlich schizogen oder so!“, ergriff der aufgewühlte Mann mit der Akne wieder das Wort und fuhr sich angestrengt durch seine kurzen, blonden Haare. Seine Stirn glänzte schwach von Schweißperlen und dem Licht der Deckenleuchten.

      „Verzeihung?“, fragte Frank verwirrt und runzelte leicht genervt die Stirn. Er konnte es nicht leiden, wenn Jungspunde sich nicht vernünftig ausdrücken konnten. Nervosität hin oder her.

      „Naja so schizogen halt. Wenn man anfängt mit sich selber zu reden oder so, was weiß ich“, erklärte er bruchstückhaft und zuckte unkontrolliert mit den Schultern.

      „Sie meinen schizophren?“

       In Gedenken an unsere Kollegen Herbert Plock & Sebastian Körtel, die ihr Leben zum Schutze anderer geopfert haben. Ruhet in Frieden, Männer.

      „Ja, kann sein, aber wie auch immer. Der Kerl muss krank oder gestört gewesen sein. Wenn sie mich fragen wahrscheinlich sogar beides.“

      „Ganz in Ruhe. Gehen wir den Vorfall der Reihe nach durch. Was genau ist passiert?“, wiederholte Frank mit einem Unterton, in dem so viel Hoffnungslosigkeit steckte wie nur möglich. Der Mann, dessen Name allem Anschein nach Dominik war, befolgte schlussendlich den Tipp, den ihm sein Kollege bereits vor einigen Minuten gegeben hatte und atmete ein paar Mal tief durch, bis er sich bereit fühlte zu erzählen, was passiert war.

      „Ich war gerade dabei, das Regal mit den Wasserflaschen aufzufüllen, als ich sah, wie jemand versuchte die Tür zum Lager zu öffnen. Natürlich bin ich sofort hingegangen und habe ihn darauf hingewiesen, dass er dort nicht reindürfe, wenn er hier nicht arbeite. Auf einmal hat er sich umgedreht und gemeint, dass er hier arbeiten würde und bloß seinen Schlüssel verlegt hätte und ich ihm doch bitte meinen leihen solle. Natürlich hab ich ihm nicht geglaubt und verlangte, seinen Mitarbeiterausweis zu sehen. Ich weiß nicht wie und wann er ihn mir abgenommen hatte, aber auf einmal zeigte er mir meinen Ausweis vor und bat mich erneut nach dem Schlüssel für die Tür und auch für die Kasse. Er müsste noch ...“

      Fragend sah Frank den Mann an. Er wollte nicht noch mehr Zeit hier verbringen