»Du bist aber nicht immer so schweigsam, oder?«, fragte Wilhelm plötzlich, als die Vorspeisenteller abgeräumt waren und Magnus vor sich hin starrte.
»Entschuldige bitte, ich habe nur gerade an einen Schulausflug gedacht, ein kleines Jagdschloss, das wir besichtigt haben. Die Einrichtung erinnert mich ein wenig daran.«
»Wallersee?«, fragte Wilhelm.
»Ja, genau. So hieß es.«
»Gehört den von Eschbergs. Ich war früher oft mit Georg dort. Und ich gebe zu, es hat mich inspiriert.«
Wie klein die Welt doch ist!, schoss es Magnus wieder in den Sinn und er nahm einen Schluck Rotwein. Wilhelm blickte in sein Glas, dann zu Magnus und rieb sich das Kinn.
»Ich kann mir vorstellen, wie seltsam das alles für dich ist, mein Lieber. Ein völlig fremder Mann ruft dich unvermittelt an und lädt dich zum Essen ein, nur weil du seine Tochter kennengelernt hast. Tausend Eindrücke in den letzten Tagen, kaum Zeit, das zu verarbeiten und dann noch ›ein Koffer in Berlin‹.«
»Du sprichst mir aus der Seele, um offen zu sein. Das Schlimmste ist aber, dass ich Victoria wahnsinnig vermisse.«
»Verstehe. Es war ein ungünstiger Zeitpunkt für euer Kennenlernen. Wohl wahr.«
»Und doch war er genau richtig. Schätze ich. Die zweieinhalb Wochen kann ich eigentlich bestens dazu nutzen, mich weiter einzuarbeiten. Dass sie also abends nicht auf mich warten muss oder ich auf sie, ist eigentlich ganz gut. Und auf der anderen Seite ist es wunderschön zu wissen, dass es sie gibt, dass sie da ist.« Melancholisch besah er den Wein im Glas. Der Rehrücken wurde aufgetragen, sie begannen zu essen und Wilhelm ergriff das Wort.
»Weißt du, meine Einladung kam ja nicht von ungefähr. Ich gebe zu, dass ich Victoria bewusst im Unklaren gelassen habe, dass ich dich treffen wollte, insofern bin ich ganz froh, dass sie nicht da ist.«
»Weil?«
»Sie versteht es ganz prächtig, Dinge zu verkomplizieren. Zumindest in Herzensangelegenheiten. Victoria hat mich am Dienstagabend aufgesucht und um Rat gebeten, wie sie dir die Firma und ihren Lebensstil schonend beibringen kann. Durch dein Erscheinen bei ECG hat sich das ja dann von allein erledigt, aber sie ist immer noch hin- und hergerissen, ob du das für dich so akzeptieren kannst.«
»Womit sie nicht ganz Unrecht hat. Ich habe gestern Moritz von Eschberg getroffen, wir haben uns lange unterhalten. Insbesondere darüber. Seine Frau hatte wohl am Anfang ähnliche Bedenken.«
»O ja ... Und wie du wahrscheinlich auch weißt, hat mein guter Freund Georg sich ebenfalls ungefragt eingemischt.«
»Du meinst also, dass wir allesamt ein bisschen Starthilfe benötigen?« Magnus schmunzelte.
»Stimmt’s oder hab ich recht, hohes Gericht?« Milde lächelte er ihn an.
»Ja ... Im Großen und Ganzen. Nur, das mit meinem Koffer in Berlin muss ich wohl alleine klären ...«
»Wobei genau das der einzige Punkt ist, an dem ich mit Victoria nicht einer Meinung bin. Ihr ist deine Vergangenheit weitestgehend gleich, sie denkt und fühlt ab Montag. Nur ...«
»Ja?«
»Magnus, Victoria und ich pflegen eine offene Kommunikation. Ich weiß bei weitem nicht alles von ihr, will ich auch gar nicht. Aber in den wichtigen Lebensfragen hatten und haben wir keine Geheimnisse voreinander ...«
»Was in Bezug auf mich bedeutet?«
»Von Jurist zu Jurist – ich erwarte nicht, dass du vor mir einen völligen Seelenstriptease hinlegst. Aber ich erwarte Ehrlichkeit von dir. Was jetzt allerdings keine Unterstellung beinhaltet ...«
»Habe ich auch so nicht aufgefasst. Nichts läge mir ferner, als Victoria oder dir mit Unehrlichkeit oder Unaufrichtigkeit entgegenzutreten. Egal wie kurz oder lang wir uns kennen. Ganz nebenbei, du bist Jurist?«
»Ja, auch wenn alle Welt glaubt, ich sei ein Dr. oec., promoviert habe ich in Wirtschaftsrecht, mit Schwerpunkt auf dem rechtlichen Thema. Von Haus aus bin ich ursprünglich Rechtsanwalt gewesen. Zur Wirtschaftsberatung bin ich gekommen, wie die Jungfrau zum Kinde. Anders als Victoria, die von klein auf in diesem Sektor stand.«
»Meine Vorzimmerdame hat mir gestern ein bisschen darüber erzählt. Und, wenn ich das ansprechen darf, auch den Teil mit Victorias Mutter ...«
»Natürlich darfst du. Schon vergessen? Offen und ehrlich ...« Wilhelm lachte. »Schon gut, ich wollte dich nicht verunsichern. Victorias Mutter gehört dazu und doch auch irgendwie nicht. Wir schweigen das nicht tot, aber es zählt definitiv nicht zu unseren Lieblingsthemen. Noch Fragen?«
Lachend schüttelte Magnus den Kopf. »Nein, erst mal nicht. Danke.«
In der Zwischenzeit hatten sie auch den Hauptgang beendet und bereits das zweite – oder war es das dritte? – Glas Wein geleert.
»Es schmeckt übrigens vorzüglich!«, bedankte sich Magnus und hob nickend sein Glas.
»Warte ab, bis du die Mousse au Chocolat gegessen hast. Ein Jammer, dass Victoria nicht da ist. Sie liebt sie ...«
»Ich kann gar nicht fassen, was sie alles isst. Wie macht sie das?«
»Keine Ahnung, mein Lieber. Gute Gene, wahrscheinlich. Aber ich bin sehr froh, dass sie so einen gesunden Appetit hat. Für das, was sie leistet, wäre es tödlich, wenn sie sich nicht gescheit ernähren würde ...«
»Wohl wahr ...« Magnus ließ den Blick zum Panoramafenster am anderen Ende des Raumes hinausschweifen. Victoria war so unbeschreiblich weit weg. 5.000 Kilometer.
»Magnus, ich frage mich, was dich wohl so schwer belastet!? Abgesehen von der Tatsache, dass du in Gedanken gerade in Dubai bist ...«
»Ich hatte vorhin ein komisches Gespräch mit jemandem, von dem ich bis dahin glaubte, er sei mein bester Freund.«
»Möchtest du davon erzählen?«
»Tobias und ich haben zusammen studiert, er stammt aus einer Juristenfamilie. Sein Vater hat mich inspiriert und den Wunsch in mir geweckt, an den BGH nach Karlsruhe zu gehen, eines Tages. Wir waren immer ein Team. Bis ich ihm von Victoria erzählt habe. Mit drei Sätzen hat er mich völlig verunsichert und unsere Freundschaft auf die Probe gestellt. Victoria hatte mich gebeten, nicht im Internet nach ihr zu suchen. Was ich auch nicht getan habe und auch nicht tun werde. Aber Tobias hat sich erkundigt und versucht, mich runterzuziehen.«
»Nicht die feine englische Art. Was hat er erzählt? Ich meine, was hat er gefunden, das dich offenbar so aus dem Konzept gebracht hat?«
Seufzend löffelte Magnus die Mousse au Chocolat leer. »Das ist es ja, er konnte mich noch nicht mal wirklich aus dem Konzept bringen. Zumindest nicht in meiner Haltung Victoria gegenüber. Er hat etwas von einer Steueraffäre erzählt, aus der sie sich freigekauft haben soll. Das kann ich mir nicht vorstellen, sonst würde doch Angela Merkel nicht bei ihr anrufen und sie um ihre Meinung bitten. Oder?«
»Eine kluge Schlussfolgerung. Und eine niedliche Geschichte, die von der Presse enorm aufgebauscht wurde vor zwei Jahren. Victoria –« Wilhelm bekam mit einem Mal einen Lachanfall, hielt sich den Bauch und hörte erst wieder auf, als er husten musste. Magnus saß mit weit aufgerissenen Augen daneben und versuchte, zu ergründen, was daran so witzig sein sollte.
»Also, Victoria hatte vor zwei Jahren tatsächlich vergessen, ihre Einkommensteuererklärung einzureichen. Stell dir vor, sie