»Warum nehmt ihr nicht ein Seil?«, rief einer aus der Menge.
Der Vogt sah sich zornig zu den Leuten um. Dann zeigte er auf Jacob, der ja ganz vorne stand.
»Du, nimm ihm die Laterne ab und leuchte.« Er deutete auf den Mann, der auf der Böschung stand. Jacob wollte protestieren, aber die anderen Männer, denen er zuvor seine Ellenbogen in die Rippen gestoßen hatte, lachten und schubsten ihn zum Laternenträger. Der hatte sich auf Jacob zubewegt und drückte ihm die Laterne kurzum in die Hand. »Geh und hol ein Seil, schnell«, wies der Vogt den Mann an, der sich sofort umdrehte und losrannte.
Jacob stand mit der Laterne in der Hand unschlüssig herum. Der Vogt wandte sich wieder Jacob zu, und als er ihn nun im Laternenlicht sah, schien es, als würde er Jacob von irgendwoher erkennen. In der nächsten Sekunde widmete er sich aber wieder der Leichenbergung.
»Du musst ihnen leuchten. Geh ein wenig die Uferböschung hinab«, befahl er Jacob. Sein strenger Ton duldete keine Widerrede.
Unter dem Tuscheln und Lachen der Menge - »Geschieht ihm recht«, sagte jemand - tapste Jacob vorsichtig zwei Schritte den schrägen Teil des Ufers hinab. Das hatte er davon, dass er immer so vorwitzig sein musste. Warum hatte er sich auch ganz nach vorne gedrängelt? Hoffentlich beschmutzte er sich nicht seinen guten Rock oder purzelte gar hinunter.
»Noch weiter«, rief der Vogt.
Jacob machte einen weiteren Schritt die Böschung hinab.
Die drei Männer bei der Leiche hatten alles mitbekommen und unternahmen deshalb keine weiteren Bemühungen. Die Hände in die Hüften gestemmt standen sie um den dunklen Haufen herum und sahen auf ihn hinunter. Ihre sich hebenden und senkenden Brustkörbe zeugten von den Anstrengungen, die sie bereits hinter sich hatten. Mit ihnen wollte Jacob schon gar nicht tauschen.
»Er kommt schon zurück«, hörte er eine weibliche Stimme aus der Menge sagen.
Einen Augenblick später traf der Mann mit dem Seil atemlos wieder ein.
»Die Wächter hatten ein Seil im Wächterhaus«, sagte er zum Vogt.
Jacob wähnte sich von seiner Aufgabe erlöst und machte Anstalten, die Böschung hinaufzugehen.
»Du bleibst schön dort, wo du bist«, kommandierte sogleich der Vogt, der seine Absicht wohl erkannte. »Und du wirfst ein Ende des Seils hinunter«, sagte er zu dem Mann, der das Seil geholt hatte. Dann etwas lauter zu den Männern unten am Graben: »Ihr schlingt der Leiche jetzt das Seil unter den Achseln hindurch und über die Brust und macht auf dem Rücken einen festen Knoten.«
»Sie sollen vorsichtig sein, damit der Leiche nichts geschieht. Diese Wasserleichen sind äußerst empfindsam«, ließ sich der Bader vernehmen.
»Hört ihr? Ihr sollt vorsichtig mit der Leiche umgehen«, gab der Vogt weiter.
Seine Männer führten die Anordnungen sofort aus und kurze Zeit später erhielt der Vogt von unten eine Fertigmeldung. Er drehte sich um, musterte kurz die Menge und zeigte nacheinander auf einige Männer.
»Du, du ... und du: herkommen und ans Seil treten.«
Die ausgesuchten Kerle, von denen wahrscheinlich jeder alleine ausgereicht hätte - alle drei recht groß und kräftig - traten mit bedröppelten Mienen hervor und nahmen das obere Seilende in die Hände.
Der Vogt gab noch einige Anweisungen - wie unten die Leiche zu drehen war, damit sie möglichst wenig durch den Matsch gezogen wurde, wie die Männer sie führen sollten, wann die Männer oben wieder ein Stück ziehen sollten - und schließlich lag das Bündel, in dem Jacob nun eher einen Menschen erkannte, am oberen Grabenrand.
»Komm her, Bursche.« Der Vogt winkte Jacob, der mit hoch gegangen war, näherzukommen. »Wir brauchen mehr Licht.«
Jacob stellte sich mit der Laterne so hin, dass möglichst viel von ihrem Schein auf das Bündel fiel. Die Menge bildete im gebührenden Abstand einen Halbkreis um das Geschehen. Zwei der Männer vom Vogt zerrten an der Kleidung der Leiche herum. Im Wasser hatte sich diese wohl um den Kopf gewickelt.
Dann endlich war das Gesicht der Leiche zu sehen und ein Aufstöhnen ging durch die Menge. Jacob, der ja mit seiner Laterne wieder ganz vorne stand, hatte den besten Blick. Der Tote war ein Mann, der vielleicht 40 Jahre alt sein mochte, genau konnte er es nicht schätzen, weil das Gesicht ziemlich aufgeschwemmt war. So schrecklich sah die Leiche aber gar nicht aus. Die Haut wirkte unnatürlich wächsern, doch ansonsten hätte man meinen können, er schliefe. Es war überhaupt nicht verständlich, warum jemandem bei diesem Anblick schlecht werden sollte. Einzig das Wissen, dass es sich um einen Toten handelte, machte Jacob ein mulmiges Gefühl.
Die Männer hatten inzwischen mit Messern den Rock der Leiche entfernt. Dieser hatte sich auch um dessen Hände geschlungen. Sie sahen ebenfalls aufgedunsen und wächsern aus.
Nun drängelte sich der Bader vor, wobei er sich mehrfach bei den Männern in der Menge entschuldigte. Als er ganz vorne stand, betrachtete er die Leiche zunächst genauso, wie alle anderen.
»Zieht ihn gänzlich rauf«, sagte der Vogt.
Ein Bein hing noch über der Böschung.
Als sie den Toten aus dem Wasser gezogen hatten, hatten sie ihn an der Kleidung angefasst. Nun griff einer der Männer, sicherlich ohne darüber nachzudenken, nach dem Unterarm, um daran zu ziehen.
»Halt, nicht ...!«, rief der Bader.
Doch die Warnung kam zu spät. Im nächsten Moment gab es ein knucksendes Geräusch, gefolgt von einem Schmatzen, und der Mann hielt den gesamten Unterarm losgelöst von der Leiche in der Hand. Mit vor Ekel verzerrtem Gesicht warf er ihn sofort von sich. Eine Woge fauliger Luft schlug Jacob entgegen.
Nach einer Schrecksekunde merkte er, dass das nun doch zu viel für ihn war. Ein unaufhaltsamer, säuerlicher Schwall stieg in seinem Hals empor. Er musste hier weg. Die Laterne ließ er fallen, wodurch sie sofort erlosch, und er drängelte sich noch rücksichtsloser als zuvor durch die gaffende Menge. Nachdem er hindurch war, kam er keine drei Meter mehr weit, bevor er sich krampfartig übergeben musste. Während er vornübergebeugt halb verdaute Schinkenstücke im Schein der Laternen erkennen konnte, musste er erneut das Gelächter der Menge über sich ergehen lassen.
Er musste hier weg.
Die ersten Schritte stolperte er fast, im Bemühen nicht in sein Erbrochenes zu treten. Dann lief er ein Stück und nach kurzer Zeit hatte die klare Nachtluft die Übelkeit größtenteils beseitigt. Den Rest des Weges zum Tor ging er so, als wäre nichts geschehen.
Die Gitter waren nun natürlich geschlossen.
Normalerweise hätte Jacob sich darüber geärgert, dass er an die Torwachen zwei Schwaren zahlen musste und deshalb ein Bier weniger trinken konnte, aber er war gedanklich viel zu sehr mit dem gerade Erlebten beschäftigt. Während er im kümmerlichen Licht der tranbefeuerten Straßenlaternen die Langestraße entlangmarschierte, schwirrten ihm ständig Bilder der aufgequollenen Leiche durch den Kopf, die ihm im Rückblick weitaus schrecklicher schienen. Ein Schauer überlief ihn bei der Erinnerung an die Geräusche und Gerüche, als der Arm abgetrennt wurde.
Er bog zweimal ab, während er versuchte, diese Gedanken zu verdrängen. Dass er sich jetzt der Tanzveranstaltung näherte, half dabei, denn die lauter werdende Musik weckte die Vorfreude. Und als er dann die fröhlichen Stimmen hörte, war sein Kopf wieder klar.
Nur sein Hals war es nicht: Der säuerliche Geschmack des Erbrochenen steckte ihm noch immer im Rachen. Den wollte er jetzt schnell hinunterspülen. Er bog um die letzte Ecke und kam in eine kleine Seitengasse, wo sich die Leute zum Feiern getroffen hatten. In der Mitte tanzten mehrere Paare und drum herum standen viele weitere Männer und Frauen und unterhielten sich. An der Seite hatte ein geschäftstüchtiger Gastwirt, den Jacob aus einer Wirtschaft in der Nähe des Haarentors kannte,