Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller. Michael Vahlenkamp. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Vahlenkamp
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753180083
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an einen ihrer Griffe, zog sie in den Gang und hinter sich her bis zur Luke.

      Jetzt kam der schwierige Teil.

      Drei Stunden später ließ sich Editha erschöpft auf das Sofa fallen. Für heute reichte es wirklich. Nachdem sie die Truhe endlich vom Boden herunterbekommen hatte - sie musste sie dazu erst ausräumen - und die schweren Kartons auf den Boden hinauf - gut, dass sie für ihr Karate-Training auch ein wenig mit Gewichten trainierte - hatte sie alle Sachen vom Fußboden und aus den Schränken in weitere Kartons verpackt und diese ebenfalls nach oben gewuchtet. Es grenzte an ein Wunder, dass Timo bei dem Krach, den sie damit gemacht hatte, nicht aufgewacht war. Aber die Anstrengungen hatten sich gelohnt: Der große Raum war fast bereit, renoviert zu werden, nur die Schränke mussten noch abgebaut oder in die Raummitte geschoben werden.

      Vor ihr auf dem Tisch lag das Buch, das sie gefunden hatte. Die geprägten Buchstaben glänzten in dem Licht der Stehlampe.

      »J. R.«, murmelte sie vor sich hin.

      Das waren bestimmt Initialen. Für welchen Namen sie wohl standen?

      Sie nahm das Buch vom Tisch und schlug es an verschiedenen Stellen auf, aber es zu lesen, war für sie unmöglich. Auf der ersten Seite befand sich das Datum »17.5.1785«. Sie durchblätterte die Seiten wie ein Daumenkino, um zu sehen, welche Daten folgten. Dabei fiel ihr auf, dass vor dem ersten Viertel ein loses Blatt in dem Buch steckte. Sie zog es heraus. Auch hierauf war ein Datum vermerkt. Es stimmte mit dem Datum überein, das sich auf der Buchseite befand, vor dem das Blatt gesteckt hatte. Unter dem Datum auf dem losen Blatt stand ein längerer, lesbarer Text, denn er war mit Schreibmaschine geschrieben. Sie verglich den Text mit dem im Buch und erkannte, dass es sich um die gleichen Wörter handeln musste. Irgendjemand hatte sich scheinbar die Mühe gemacht, einen Abschnitt des Buches in die moderne Schrift zu übertragen. Warum er sich gerade diesen Abschnitt ausgesucht und nicht vorne angefangen hatte, würde wahrscheinlich das Geheimnis des Verfassers bleiben.

      Editha begann zu lesen. Bei dem Text handelte es sich um ein nächtliches Erlebnis eines Mannes, dem am sogenannten Lappan aufgelauert wurde. Eigentlich hatte sie ja erwartet, dass sie einen Tagebucheintrag in der Ich-Form vorfinden würde. Der Text war aber geschrieben wie ein Roman, in der dritten Person. Handelte es sich hierbei nur um eine Geschichte, die im Jahre 1788 spielte?

      Von diesem Lappan hatte sie nun schon öfter gehört, seit sie in Oldenburg wohnte. Er schien sowohl Wahrzeichen als auch zentrale Anlaufstelle zu sein. Gleich, als sie aus Hamburg mit dem Zug ankam, fiel er ihr das erste Mal auf, weil scheinbar alle Busse eine Haltestelle »Lappan« hatten. Vielleicht sollte sie sich ihn mal ansehen. Da am folgenden Tag Samstag war, beschloss sie, dann mit Timo einen Bummel durch die Innenstadt zu unternehmen.

      Der Bus fuhr auf seine nächste Haltestelle zu, an einigen hübschen Häusern vorbei. Davon hatte das Stadtviertel, in dem ihr Haus lag, wirklich viel zu bieten. Editha sah auf den Stadtplan, damit sie nicht aus den Augen verlor, wo sie entlangfuhren.

      »Haarenufer ... Ofener Straße ...«, murmelte sie vor sich hin.

      Sie wollte sich die Straßen einprägen. Sich hier in Oldenburg bald auszukennen, konnte nicht so schwierig sein. Von Hamburg war sie da schließlich wesentlich Schlimmeres gewohnt. Oldenburg war vergleichsweise klein und überschaubar.

      »Wofür sind die?«

      Timo deutete mit seinem winzigen Zeigefinger auf einen der roten mit »STOP« beschrifteten Taster, der an der senkrechten Haltestange vor seinem Sitz angebracht war.

      »Wenn man die drückt, weiß der Fahrer, dass man bei der nächsten Haltestelle aussteigen möchte.«

      Editha zog die Ärmel von Timos Jacke wieder nach unten. Ständig schoben die sich durch seine Bewegungen von selbst hoch. Eine Fehlanschaffung diese Jacke, dabei war sie ausnahmsweise nicht einmal gebraucht gekauft.

      »Warum weiß er das denn, wenn man da drückt?«

      Ihr Sohn war gerade in einer Phase, in der er unzählige Fragen hintereinander stellen konnte. Auch, wenn es ja gut war, dass er neugierig war, ging ihr das manchmal ziemlich auf die Nerven.

      »Hm, wahrscheinlich leuchtet dann bei ihm ein Lämpchen auf.«

      Sie ahnte seine mögliche nächste Frage: »Wieso leuchtet ein Lämpchen auf, wenn man da drückt?« Aber offenbar musste Timo darüber erst mal nachdenken. Er betrachtete weiterhin mit einer beachtlichen Menge an Runzelfalten auf seiner kleinen Stirn den Taster.

      Links glitt eine Kirche vorbei und geradeaus fuhren sie auf einen halbrunden Platz zu. Editha warf wieder einen Kontrollblick auf ihren Stadtplan.

      »Julius-Mosen-Platz. Sieht ja ganz nett aus«, flüsterte sie.

      Sie entdeckte ein Eiscafé, in das sie sich vielleicht mal setzen und das Geschehen beobachten könnte.

      Der Bus fuhr links ab und folgte anschließend einer seichten Rechtskurve. Die automatische Frauenstimme erklang betonungslos aus den Lautsprechern und sagte den Lappan als nächste Haltestelle an. Das ging ja schnell. So kurze Fahrten war sie von Hamburg gar nicht gewohnt. Ohne Timo wäre sie das kleine Stück zu Fuß gegangen. Zusammen hätten sie das Fahrrad nehmen können. Aber so hatte sie zugleich das Busfahren in ihrer neuen Heimat kennengelernt.

      »Jetzt kannst du den Knopf mal drücken«, sagte sie zu ihrem Sohn, der sich gleich danach reckte. Bevor er ihn erreichte, erklang ein Gong, und die Anzeigetafel zeigte »Wagen hält« und »Lappan« an. Timo, der davon nichts mitbekommen hatte, streckte sich noch ein Stück, drückte die Stopptaste und ließ sich zufrieden lächelnd wieder in den Sitz plumpsen. Editha lächelte zurück.

      Ruppig bremste der Fahrer an der Haltestelle den Bus ab und die Türen öffneten sich mit einem Zischen. Die meisten Fahrgäste drängten zusammen mit Editha und Timo zum Ausgang. Dieses Gewühl war genauso wie in Hamburg. Erst als sich der Menschenstrom in die Breite verteilte, stellte sie fest, dass sie sich auf einem großen Platz befanden.

      Das war also die viel genannte Haltestelle Lappan. Sie gingen ein paar Schritte, bis sie in der Mitte des Platzes ankamen. Hier standen sie direkt vor der Fußgängerzone der Innenstadt in einer Ecke einer großen Straßenkreuzung. Auf der anderen Straßenseite konnte sie das Gebäude einer Versicherung und weitere Geschäftsgebäude erkennen. Von einem Komplex die Straße weiter runter wusste sie, dass es ein Museum war. Sie drehte sich um und sah vor sich eine schmale Gasse, die schon zur Fußgängerzone gehörte, wie sie am Schild erkannte. Rechts der Gasse stand ein altes, weißes Haus, in dem sich eine Gaststätte befand.

      »Krieg ich ein Eis?«

      Timo zog an ihrem Arm.

      »Wenn wir an einem Eisladen vorbei kommen, kannst du eine Kugel kriegen, okay?« Sein Gesicht strahlte und er zerrte stärker, damit sie sich beeilte. »Aber vorher musst du Mama in Ruhe gucken lassen.«

      Schon wieder die kleine Runzelstirn. Kaum zu glauben, dass man mit drei Jahren so viele Falten aufbringen konnte.

      »Was willst du hier denn gucken?«

      »Ich will mir nur diesen Platz und diese Gasse ansehen. Das dauert ein paar Minuten.«

      Er gab Ruhe und folgte ihr, als sie in die Gasse ging. Sie war nicht lang, schnell hatten sie das Ende erreicht. Das musste der Ort sein, der in dem Buch geschildert wurde. Sie sah nach rechts und nach oben, wo der alte Turm stand, der Namensgeber für die Haltestelle war, der Lappan. Was für ein eigenartiger Name für einen Glockenturm, fand Editha.

      Auf der linken Seite der Gasse ragte die Hauswand ein wenig weiter vor. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es hier vor ein paar hundert Jahren ausgesehen haben mochte. Der Halunke aus der Erzählung, ob es nun Tagebuch oder Fiktion war, musste sich an dieser Stelle versteckt und darauf gelauert haben, dass der Mann, aus dessen Perspektive alles geschildert wurde, aus der größeren Straße von links kam. Das war die Lange Straße, was sie dem Schild an dem Haus gegenüber entnehmen konnte. Sie hoffte, dass Timo nicht den Burger King sah, der dort untergebracht war, denn obwohl sie nur sehr selten in Fast-Food-Läden aßen, hatte er schon eine Vorliebe für dieses Essen entwickelt. Wenn er es sah, war die nächste