»Der kleinere der beiden ist mein Bruder und der andere ist sein Freund, der schon länger ein Auge auf mich geworfen hat.« Sie sah ängstlich zu ihnen hin. Jegliche Keckheit war aus ihrem Blick gewichen. »Mein Bruder wird mich bestimmt bei meinen Eltern verraten. Du musst wissen, dass ich eigentlich nicht hier sein darf.«
Jacob konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, während er versuchte, mit seinem Ärmel den Rock zu trocknen.
»Aber du bist doch schon 24 Jahre alt. Dann kannst du doch tun und lassen, was du willst.«
Rosa senkte den Blick.
»Ja, aber ...«, setzte sie an.
»Ach, sei’s drum.« Gerne hätte er sich noch ein wenig in ihrer Verlegenheit gebadet, aber ebenso sehr wollte er ihre Laune nicht verderben. »Von denen lassen wir uns doch nicht die Stimmung kaputtmachen.«
Er grinste die beiden Männer demonstrativ an und hob zum Gruß seinen Bierkrug. Fast glaubte er, sehen zu können, wie ihnen vor Wut Dampfwolken aus den Ohren stoben. Dann drehte er ihnen den Rücken zu und beschloss, ihnen keine weitere Beachtung zu schenken.
»Komm, lass uns wieder tanzen.«
Er kippte den Rest seines Biers in einem Zug herunter. Rosa sah nicht glücklich aus und schielte weiterhin zu den Männern. Doch dann setzte sie eine trotzige Miene auf und tat es ihm mit dem Bier gleich. Was ganz beachtlich war, denn ihr Krug war noch halb voll.
Einen Moment später drehten sie sich wieder wild in die Runde. Sogar mehr als vorher schmiegte sie sich immer wieder an ihn und gewiss mehr, als es sich geziemte. Die Wirkung des Biers sorgte dafür, dass Jacob mutiger wurde. Die eine Hand hatte längst ihre alte Position oberhalb des Gesäßes eingenommen, vielleicht ein wenig tiefer als vorher, und die andere Hand wanderte langsam die Hüfte hoch, bis sie sich seitlich kurz unterhalb ihres Busens befand. Er konnte die Fülle spüren, das Auf und Ab, verursacht durch die Tanzbewegungen. Auch meinte er zu spüren, dass sich ihre Atmung weiter beschleunigte. Ihr Blütenduft vermischte sich mit dem Geruch ihres Schweißes. Jacob fühlte sich wie benommen. Alles um Rosa und ihn schien zu verschwimmen. Es gab nur sie und ihn, wie in einem Rausch.
Doch plötzlich wurden sie in die Wirklichkeit zurückgerissen. Die beiden Männer, Rosas Bruder und sein Freund, standen auf einmal mitten unter den Tanzenden und Jacob wäre fast mit ihnen zusammengeprallt. Er reagierte impulsiv, ohne darüber nachzudenken, vor allem über die körperliche Überlegenheit der beiden viel größeren Männer.
»Was fällt euch ein, euch hier einfach in den Weg zu stellen?«, schnauzte er sie an. »Seht zu, dass ihr euch davon macht.«
Er zog Rosa zu sich, bis sie dicht an seiner Seite war, und legte den Arm um ihre Taille. Dabei merkte er, dass sie etwas unsicher auf den Beinen stand, sei es wegen der Drehungen beim Tanz oder wegen des zu schnellen Genusses von zu viel Bier.
Der Größere der beiden, der vorher schon wütend aussah, verengte seine Augen noch mehr.
»Nimm deine unegalen Arbeiterfinger von ihr. Rosa ist mein Mädchen«, zischte er Jacob an.
Wenn Jacob etwas hasste, dann war es, wenn man ihn seine gesellschaftliche Stellung spüren ließ. Er musterte sein Gegenüber. War er Soldat in Zivil oder Beamter? Gerade wollte er zu einer passenden Entgegnung ansetzen, als Rosa ihm zuvorkam.
»Ich bin niemandess Mädjen«, fuhr sie den Mann an.
Aha, da war wohl doch das Bier für ihre Gleichgewichtsstörungen verantwortlich. Fast musste er wieder lachen wegen ihrer lallenden Aussprache.
»Halt du dich da raus«, entgegnete der Kerl, ohne sie anzusehen, aber in einem milden Tonfall.
»Warum tanzt sie dann mit mir und nicht mit dir, wenn sie doch angeblich dein Mädchen ist?«, fragte Jacob.
»Das tut nichts zur Sache. Ich werbe schon länger um sie.«
Jacob schnaubte verächtlich durch die Nase.
»Seit wann spielt es eine Rolle, wie lange jemand um ein Mädchen wirbt? Ist sie dir versprochen?«
Der Kerl zögerte. Sein Blick senkte sich, er wurde merklich unsicher.
»Nein, das nicht.« Er sah wieder auf. »Aber dir auch nicht.«
»Das stimmt. Ich kann also gleichwohl nicht verlangen, dass sie mit mir tanzt.« Jacob beobachtete, wie sein Gegenüber Zuversicht schöpfte. »Jedoch kann ich sie genauso gut wie du fragen, ob sie lieber mit mir tanzen möchte.« Der Kerl machte ein belämmertes Gesicht und Jacob wurde klar, dass er bei der Intelligenz kein Beamter sein konnte. An Rosa gewandt fragte er: »Mit wem willst du tanzen und den weiteren Abend verbringen?«
Rosa zögerte nicht eine Sekunde.
»Middir nnnatürlich«, lallte sie.
»Da siehst du es. Und nun lass uns gefälligst in Ruhe.«
Er ließ die beiden Männer stehen und bewegte sich mit Rosa tanzenderweise auf die andere Seite der Gasse. Doch auch dieses Mal wurde der Spaß nach kurzer Zeit unterbrochen.
»Die Polizei kommt!«, rief jemand, der Schmiere gestanden haben musste, um die Feiernden rechtzeitig warnen zu können.
Die Wirkung dieser Worte war enorm. Die Musik verstummte sofort und die Musiker verstauten ihre Instrumente hastig in Säcken. Die Leute strömten eilig davon. Jacob hörte einige entsetzte Schreie aus der Menge. Diejenigen, die einen Bierkrug in der Hand hielten, stellten ihn auf den Boden und rannten los. Unzählige umgekippte Krüge lagen bereits herum.
Eigentlich gar nicht so übel, dachte Jacob. Jetzt brauchte er sich keinen Vorwand auszudenken, weshalb Rosa mit ihm alleine die Feier verlassen sollte, damit er sich an sie ranmachen konnte.
Soweit er wusste, führten Anzeigen wegen des Lärms und die Vermutung der Behörden, dass die Tanzveranstaltungen Ursache der vielen unehelichen Kinder waren, im vergangenen Jahr zu dem Verbot. Er hatte noch niemanden gesprochen, der erwischt wurde, aber man erzählte sich, dass man zuerst verhaftet wurde und dann eine empfindliche Geldstrafe zahlen musste. Na, das wollte natürlich niemand, er auch nicht.
Er ergriff Rosas Hand und zog sie mit sich. Sie rannten los, umrundeten den Gastwirt, der sein Bierfass auf einer Sackkarre vor sich herschob, und folgten zunächst der wegströmenden Menge. Nach einigen Straßenecken nahm Jacob dann andere Wege, immer Rosa im Schlepptau, der die Flucht offenbar ziemlich zu schaffen machte. Und endlich erreichten sie eine einsame Straße, mit der er zufrieden war. Hier waren sie ungestört.
Rosa sah reichlich mitgenommen aus. Sie musste sich wohl erst von der Flucht erholen. Er lehnte sie an eine Hauswand und betrachtete sie. Selbst jetzt, wo sie so erschöpft wirkte, war sie wunderschön. Ihr Atem verlangsamte sich. Gerade als Jacob sie küssen wollte, atmete sie wieder zunehmend schneller. Sie drehte sich von ihm weg und erbrach sich vor die Hauswand.
Na prima, dachte Jacob. So hatte er sich den Ausgang des Abends nun wirklich nicht vorgestellt.
Jacob öffnete die Eingangstür zur Schenke und ein muffiger, abgestandener Geruch schlug ihm entgegen. Dabei waren gerade mal eine Handvoll Männer anwesend. Wie würde es hier erst in ein paar Stunden riechen, wenn literweise Bier geflossen war und die Trinkenden ihre Ausdünstungen verbreitet hatten?
Er sah sich kurz um, entdeckte seinen Bruder nirgendwo und setzte sich auf einen der Hocker an der Theke. Der Wirt nickte ihm grüßend zu und kam einen Moment später herbei. Jacob bestellte ein Bier. Schon wieder ein Starkbier, dachte er. Das letzte hatte er vor nur einer Woche, auf dieser missglückten Tanzveranstaltung. Kurz überlegte er, wie es um den Inhalt seines Geldbeutels stand. Musste er aufpassen, dass er nicht über seine Verhältnisse lebte? Nein, er hatte vor zwei Wochen erst seinen Lohn von Herold erhalten und seitdem nicht viel davon ausgegeben. Vielleicht sollte er für Herold auch ein Bier bestellen. Dann konnten sie sofort anstoßen, wenn er gleich eintraf. Doch wer wusste schon, wann sein Bruder kam? Sie waren zwar in dieser Minute verabredet, aber er war so in die Arbeit