»Weißt du, in welchem Haus Herr von Elmendorff wohnt?«, fragte Jacob ihn.
Der Mann deutete, ohne ein Wort zu sagen, auf das Haus neben dem, vor dem sie standen, und schlurrte mit seinem Wagen weiter Richtung Stautor. Welch ein Glück, dass gleich der erste Passant den Namen kannte.
Herold schritt zu der Eingangstür und schlug den gusseisernen Türklopfer drei Mal gegen die Platte. Nach kurzem Warten öffnete sich die Tür, und eine ältere Frau mit Kittelschürze und hochgesteckten, grauen Haaren stand darin, die Haushälterin, wie Jacob vermutete. Sie musterte Herold und Jacob von oben bis unten, vermittelte dabei aber nicht den Eindruck, als würde sie sie gering schätzen.
»Ja, bitte?«, fragte sie und wandte sich gleich an Herold.
»Guten Tag«, sagte Herold. »Wir würden gerne den Herrn von Elmendorff sprechen.«
Die Haushälterin sah noch mal zu Jacob, dann wieder zu Herold.
»Herr von Elmendorff hält seine Mittagsruhe. Wer seid ihr denn und was wollt ihr von ihm?«
»Entschuldigen Sie bitte mein Versäumnis.« Herold deutete eine leichte Verbeugung an. »Mein Name ist Herold Riekhen und das ist mein Bruder Jacob. Unser Vater war ein alter Bekannter des Herrn von Elmendorff. Wir wussten nicht, dass der Herr noch schläft. Um welche Uhrzeit kommen wir denn gelegen?«
In dem Moment als Herold ihre Namen nannte, bemerkte Jacob eine leichte Veränderung im Gesicht der Haushälterin. Ihm entging zudem nicht, dass Herold die Angabe des Grundes ihres Besuches geschickt umgangen hatte. Es wäre wahrscheinlich auch nicht sonderlich klug gewesen, schon vor dem Einlass davon zu sprechen, dass sie Geld haben wollten.
»Nun, es ist nicht so, dass er schläft. Zu dieser Zeit pflegt der Herr zu lesen.« Sie zögerte, blickte kurz ins Hausinnere und wirkte, als müsste sie eine Entscheidung treffen. »Also gut, ich denke, dass ich bei euch eine Ausnahme machen kann.«
Sie zog die Eingangstür weiter auf und machte eine einladende Geste. Herold folgte dieser und Jacob sofort hinterdrein. Er war ganz gespannt, denn er würde gleich jemanden kennenlernen, der jeden Tag eine längere Zeit las. Außer seinem Freund, dem Pastor, war er so jemandem noch nie begegnet. Zudem war dieser Jemand früher ein Freund seines Vaters. Offenbar kannte sogar die Haushälterin ihre Namen. Wie sonst ließ sich dieser Wandel ihrer Haltung erklären, der eintrat, als Herold sie vorstellte?
Die Frau führte sie durch einige Flure in den hinteren Teil des Hauses. An den Wänden hingen kostbar wirkende, riesige Wandteppiche, auf denen Landkarten aus verschiedenen Gebieten der Welt abgebildet waren. Jacob kannte sich in Geografie nicht gut aus, aber er erkannte eine Darstellung Italiens und eine Spaniens. Vielleicht war Herr von Elmendorff ein Mann, der viel reiste.
Dann durchquerten sie einen Flur, an dessen Seiten edle Kommoden standen und auf ihnen die schönsten Vasen, die Jacob je zu Gesicht bekommen hatte. Oberhalb der Kommoden hingen Ölgemälde an den Wänden, welche sehr unterschiedliche Motive zeigten, von Landschaften über Gebäuden, von denen Jacob einige aus Oldenburg kannte, bis hin zu Porträts.
»Ich führe euch zur Bibliothek«, informierte die Haushälterin sie, ohne den Schritt zu verlangsamen. »Aber bevor ihr mit reinkommen könnt, muss ich den Herrn fragen, ob ihm euer Besuch recht ist.«
Jacobs Bauch kribbelte vor Aufregung. Eine Bibliothek. Das wurde ja immer besser. Erstaunlich, dass es private Personen gab, die sich so etwas einrichteten. Er war ganz gespannt, welche Bücher sich in von Elmendorffs Sammlung befanden.
Als der Flur um eine Ecke verlief, drehte sich die Haushälterin plötzlich um und erhob die Hand mit der Handfläche voran in seine und Herolds Richtung.
»Wartet kurz hier«, sagte sie und verschwand um die Ecke.
Jacob ging zwei Schritte vor und spähte in den nächsten Gang, der sich hinter der Ecke erstreckte. Dort stand die Frau vor einer zweiflügeligen Tür mit Glasfenstern, die durch Vorhänge verdeckt waren, und klopfte an. Jacob hörte eine Stimme aus dem Zimmer. Er konnte zwar nicht verstehen, was sie sagte, aber dass die Person, der sie gehörte, von der Störung nicht erfreut war, konnte er am Tonfall ausmachen. Die Haushälterin trat daraufhin ein und lehnte die Tür hinter sich an.
Von dem Gespräch war dann hauptsächlich die höhere Stimme der Frau zu vernehmen, doch leider war kein einziges Wort zu verstehen. Gerade wollte Jacob näher an die Tür herangehen, er fing sich schon einen missbilligenden Blick von Herold ein, da kam die Haushälterin wieder heraus. Sie zog die Augenbrauen hoch, als hätte sie ihn beim Lauschen erwischt, dabei hatte er ja noch gar nicht damit angefangen.
»Bitte tretet ein, der Herr möchte euch empfangen«, sagte sie und machte die gleiche einladende Geste wie kurz zuvor.
Das erste, was Jacob in der Bibliothek wahrnahm, war der muffige Geruch. Aber der war für ihn nicht unangenehm, denn er wusste, dass er von den Büchern herrührte. Und davon gab es hier Hunderte, wie er feststellte, bevor er den Herrn von Elmendorff auch nur ansah. Herold dagegen war bereits dabei sie vorzustellen.
»Guten Tag Herr von Elmendorff«, vernahm Jacob nebenbei, während seine Augen hin und her schnellten, in dem Bemühen möglichst alles zu erfassen. Die Bücher reihten sich in Regalen, die sich an drei Zimmerwänden vom Fußboden bis zur Decke erstreckten. Für die oberen Reihen stand eine rollbare Leiter bereit. »Das ist mein Bruder Jacob und ich bin Herold Riekhen, Söhne von Diether Riekhen. Ich dachte mir, dass Sie uns vielleicht anhören würden, wenn wir Ihnen seinen Namen nennen.«
»Ja, das habt ihr richtig vermutet. Schon lange habe ich nicht mehr den Namen meines alten Freundes gehört.«
Als Jacob nun die gutmütige Stimme des Mannes hörte, der seinen Vater einen »Freund« nannte, sah er ihn das erste Mal an. Von Elmendorff war ein mittelgroßer, dicklicher Mann, dessen Arme zu kurz für seinen Körper schienen. Dem schlechten Sitz der weiß gepuderten Perücke nach zu urteilen, hatte er sie sich unmittelbar vor ihrem Eintreten hastig wieder auf dem Kopf platziert. Unter diesem Ungetüm einer Frisur befand sich ein pausbackiges Gesicht, das dafür, dass dessen Besitzer wohl bis vor zwei Minuten in dem wuchtigen Polstersessel hinter ihm gesessen hatte, recht rot war. Auch sein himmelblaues Justeaucorps hatte er sich offenbar schnell übergeworfen, denn nicht nur, dass es nicht zugeknöpft war, der Hemdkragen wurde zudem vom Revers zusammengeknautscht. Die Knöpfe der ebenfalls himmelblauen Weste waren zwar geschlossen, wurden jedoch aus eben diesem Grunde einer harten Probe unterzogen, da der darunter befindliche Bauch kurz davor war, sie zu sprengen. Der Blick von Elmendorffs war ebenso gutmütig und freundlich wie seine Stimme. Er war permanent auf Jacob gerichtet und der Glanz seiner Augen verriet, dass er ebenfalls in Jacob seinen Vater sah und sich in frühere Zeiten zurückwünschte.
Neben dem Sessel stand ein Tischchen, auf dem ein dickes Buch abgelegt war. Den Titel konnte Jacob nicht erkennen. Als gehörte der Wälzer zu einem Gedeck, waren drum herum eine leere Teetasse, eine Teekanne sowie ein kleiner Teller mit Krümeln darauf angeordnet.
»Räume bitte das Geschirr ab«, wies von Elmendorff seine Haushälterin an, als hätte er Jacobs Gedanken gelesen und falsch gedeutet. Sein Tonfall war bestimmend, aber trotzdem freundlich und gar nicht gebieterisch. »Und bring uns bitte Kaffee.«
Kaffee, dachte Jacob. Wann bekam er den schon mal zu trinken? Vielleicht in Zukunft öfter, falls sie mit der neuen Mühlentechnik wohlhabender werden sollten, doch bisher war der für sie zu teuer.
Die Haushälterin sammelte das Geschirr vom Tisch und verließ das Zimmer. Jacob konnte seine Aufmerksamkeit nicht mehr länger von den Büchern fernhalten. Ein ganzer Raum voller Bücher ging eigentlich über sein Fassungsvermögen.
»Die Bücher scheinen dich zu interessieren. Das ist schon mal ein sympathischer Wesenszug«, meinte von Elmendorff.
Jacob machte einen Schritt auf die rechte Regalwand zu.
»Haben Sie die alle gelesen?«
Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mensch in seinem Leben so viele Bücher lesen konnte.
»Die