Wie ein Blitz wandte sich Fräulein Rachel nach ihm um.
»Sie haben die Einladung meiner Mutter angenommen,« antwortete sie, »und Sie sind hier, um andere Gäste zu treffen, und wenn Sie nicht Aufsehen erregen wollen, so müssen Sie natürlich bleiben!«
Sie ging wieder einige Schritte vorwärts und dann wieder etwas langsamer.
»Lassen Sie uns das Vorgefallene vergessen«, sagte sie, »und lassen Sie uns unser verwandtschaftliches Verhältnis aufrecht erhalten.« Dabei gab sie ihm die Hand. Er küßte sie, was ich ziemlich frei von ihm fand, und dann ging sie fort. Er blieb eine Weile mit gesenktem Kopfe allein stehen, grub mit seiner Hacke langsam ein Loch in den Kiesweg — und sah so niedergeschlagen aus, wie du gewiß in deinem Leben keinen Menschen gesehen hast. »Fatal!« murmelte er zwischen den Zähnen, blickte dabei in die Höhe und ging in’s Haus, »sehr fatal!«
Wenn er damit seine Meinung über sich selbst aussprechen wollte, so hatte er ganz recht. Er ist fatal genug; das weiß Gott. Und das Ende von Allem, was ich Dir erzählt habe, Vater,« rief Penelope, indem sie mir zum letzten Male mit der Bürste über den Scheitel fuhr, »das Interessanteste ist: Herr Franklin ist der Mann!«
Ich ergriff die Haarbürste und öffnete meine Lippen, um einen Tadel auszusprechen, den, wie meine Leser zugestehen werden, die Sprache und das Benehmen meiner Tochter reichlich verdient hatten. Aber, ehe ich ein Wort sagen konnte, erklang draußen das Rollen von Wagenrädern und verhinderte mich am Reden. Die ersten Tischgäste waren erschienen. Penelope lief ohne Weiteres fort. Ich zog meinen Rock an und warf noch einen Blick in den Spiegel. Mein Kopf war so roth wie ein Hummer, aber im Übrigen war ich für die festliche Gelegenheit so stattlich angethan, wie es sich schickte. Ich traf eben rechtzeitig in der Vorhalle ein, um die beiden ersten Gäste zu melden. Der Leser braucht sich für dieselben nicht besonders zu interessieren. Es waren nur der Vater und die Mutter des Philanthropen, Herr und Frau Ablewhite.
Zehntes Kapitel.
Einer nach dem Andern folgten die übrigen Gäste den Ablewhites. Als die Gesellschaft versammelt war, zählte sie, die Familie mit einbegriffen, vierundzwanzig Mitglieder. Es war ein schöner Anblick, als sie um den Tisch saßen und der Pfarrer von Frizinghall mit klangvoller Stimme das Tischgebet sprach. Ich brauche meine Leser nicht mit der Aufzählung der Gäste zu langweilen; sie werden mit Ausnahme von Zweien wenigstens in dem Theil dieser Geschichte den ich aufzuzeichnen habe, keinem derselben wieder begegnen. Jene zwei saßen zu beiden Seiten von Fräulein Rachel, welche als Königin des Festes natürlich den Hauptanziehungspunkt in der Gesellschaft bildete.
Bei dieser Gelegenheit war sie noch ganz besonders der Mittelpunkt dem sich die Blicke Aller zuwandten; denn zu Mylady’s geheimem Verdruß trug sie ihr wundervolles Geburtstagsgeschenk, welches alles Übrige verdunkelte, den Mondstein. Der Stein war nicht gefaßt, als er ihr übergeben wurde; aber unser Universalgenie, Herr Franklin, hatte es mittelst seiner geschickten Finger und ein wenig Silberdraht möglich gemacht, denselben als Brosche an ihr weißes Kleid zu befestigen. Jedermann bewunderte die fabelhafte Größe und Schönheit des Diamanten; aber die einzigen beiden Personen in der Gesellschaft, welche mehr als das ganz Gewöhnliche über den Stein sagten, waren die erwähnten beiden Gäste, welche zu beiden Seiten von Fräulein Rachel saßen. Der Gast zur Linken war Herr Candy, unser Arzt in Frizinghall. Er war ein kleiner Mann und ein angenehmer Gesellschafter, nur mit dem einzigen Fehler, daß er zu viel Geschmack zu rechter und zu unrechter Zeit an seinen eigenen Witzen fand und daß er es zu sehr liebte, sich in eine lange Unterhaltung mit Fremden zu stürzen. Er beging fortwährend große Taktlosigkeiten indem er die Leute unabsichtlich verletzte. In seiner ärztlichen Praxis war er vorsichtiger, indem ihn hier, wie selbst seine Gegner zugestanden, ein gewisser Instinkt der Diskretion leitete, der ihn das Rechte finden ließ, wo sorgsamere Ärzte leicht auf eine falsche Fährte geriethen. Was er Fräulein Rachel über den Diamanten sagte, war wie gewöhnlich ein Gemisch von Scherzen und Mystificationen. Er bat sie ganz ernsthaft, im Interesse der Wissenschaft ihm zu erlauben, den Diamanten mit nach Hause zu nehmen und zu verbrennen. »Wir wollen ihn erst,« sagte der Doktor, »bis zu einem gewissen Grade erhitzen, wollen ihn dann einem Luftstrome aussetzen und allmälig verdampfen lassen. Und so ersparen wir Ihnen eine Welt voll Angst und Sorgen um die sichere Aufbewahrung eines so kostbaren Juwels.« Mylady, die mit einem sorgenvollen Ausdruck zuhörte, schien zu wünschen, daß der Doktor ernsthaft spräche und daß er Fräulein Rachel veranlassen könnte, aus wissenschaftlichem Eifer ihr Geburtstagsgeschenk zu opfern.
Der andere Gast, der an der rechten Seite meines jungen Fräuleins saß, war eine berühmte Persönlichkeit, der bekannte indische Reisende Murthwaite, der mit Lebensgefahr und in Verkleidungen in Gegenden vorgedrungen war, welche nie zuvor ein europäischer Fuß betreten hatte. Er war ein langer, hagerer, muskulöser, sonnverbrannter, schweigsamer Mann. Trotz eines Ausdrucks von Abspannung war sein Blick scharf und aufmerksam. Es hieß, er sei des ewigen Einerlei des Lebens in unserer Gegend überdrüssig und sehne sich darnach, den Wanderstab wieder in die Hand zu nehmen und in die unerforschten Länder des Ostens zurückzukehren. Ich glaube, daß er mit Ausnahme dessen, was er zu Fräulein Rachel über ihren Diamanten sagte, während des ganzen Mittagessens keine sechs Worte sprach und kein einziges Glas Wein trank. Der Mondstein war der einzige Gegenstand, der ihm das mindeste Interesse einflößte. Der Ruf desselben schien an einigen jener gefährlichen indischen Orte, wohin ihn seine Wanderung geführt hatte, zu ihm gedrungen zu sein. Nach dem er denselben so lange schweigend angesehen hatte, daß Fräulein Rachel verlegen zu werden anfing, sagte er zu ihr in seiner kühlen, ruhigen Weise: »Wenn Sie je nach Indien gehen sollten, Fräulein Verinder, so hüten Sie sich, das Geburtstags-Geschenk Ihres Onkels mitzunehmen. Ein indischer Diamant ist zuweilen ein religiöses Symbol. Mir ist eine indische Stadt und ein Tempel in dieser Stadt bekannt, wo Sie, geschmückt wie Sie in diesem Augenblicke sind, nicht fünf Minuten lang Ihres Lebens sicher sein» würden.«
Fräulein Rachel, die sich in England vollkommen sicher fühlte, amüsierte sich sehr, von einer ihr in Indien drohenden Lebensgefahr zu hören; die »Dragoner« amüsierten sich noch mehr darüber. Sie ließen ihre Messer und Gabeln auf den Tisch fallen und brachen gemeinschaftlich in den heftigen Ausruf aus: »O, wie interessant!«
Mylady wurde offenbar nervös und leitete die Unterhaltung auf einen andern Gegenstand über.
Im Verlauf des Diners wurde es mir allmälig klar, daß dieses Fest keinen so fröhlichen Fortgang nehme, wie es andere ähnliche Feste bei uns gethan hatten. Wenn ich jetzt nach Allem, was seitdem geschehen ist, an den Geburtstag zurückdenke so bin ich fast geneigt zu glauben, daß der unselige Diamant wie ein Alp auf der Gesellschaft lastete. Ich füllte die Gläser fleißig und begleitete als eine privilegierte Person weniger beliebte Speisen bei ihrem Umgang um den Tisch, indem ich den Gästen vertraulich zuflüsterte: »Bitte, kosten Sie doch einmal davon; ich bin überzeugt, es wird Ihnen schmecken.« In den meisten Fällen befolgten sie meinen Rath, wie sie freundlich bemerkten aus Achtung für ihren alten Freund Betteredge. Aber das half Alles nichts. Es entstanden peinliche Pausen in der Unterhaltung, die mich persönlich unbehaglich stimmten. Kam die Unterhaltung dann wieder einmal in Fluß, so geschah es ganz unabsichtlich in der denkbar ungeschicktesten Weise und mit sehr unangenehmen Wirkungen. So sagte z. B. Herr Candy, der Arzt, mehr unpassende Dinge, als ich je früher von ihm gehört hatte.
Hier nur ein Beispiel und meine Leser werden verstehen, was ich, dem das fröhliche Gedeihen des Festes so sehr am Herzen liegen mußte, auf meinem Posten am Buffet auszustehen hatte.
Eine der Damen unserer Gesellschaft war die würdige Mrs. Threadgall, die Wittwe des verstorbenen Professors dieses Namens. Die gute Dame sprach fortwährend von ihrem verstorbenen Manne, ohne jemals gegen Fremde zu erwähnen, daß er todt sei. Sie glaubte vermuthlich, daß jeder Mensch in England das wissen müsse.
Nach einer jener peinlichen Pausen wurde das Gespräch auf den trockenen und widerwärtigen Gegenstand der menschlichen Anatomie gebracht, worauf die gute Mrs. Threadgall, wie gewöhnlich, ihres verstorbenen Mannes gedachte, ohne zu erwähnen, daß er todt sei. Sie bezeichnete die Anatomie als die Lieblings-Beschäftigung des Professors in seinen Mußestunden. Unglücklicherweise hörte Herr Candy, der über