Ich äußerte darauf, daß nach meiner Meinung das Volk der Indier eine Raubmörderbande sei. Herr Murthwaite hingegen erklärte, daß sie ein höchst merkwürdiges Volk seien. Herr Franklin sprach gar keine Ansicht aus, sondern suchte die Unterhaltung wieder auf den vorliegenden Gegenstand zurückzulenken.
»Sie haben den Mondstein an Fräulein Verinder’s Brust gesehen« sagte er; »was ist jetzt zu thun?«
»Das, womit Ihr Onkel gedroht hat,« antwortete Herr Murthwaite »Herncastle kannte seine Leute. Schicken Sie den Diamanten morgenden Tages unter Bewachung von mehr als einem Mann zum Zerschneiden nach Amsterdam. Lassen Sie ein halbes Dutzend Diamanten statt eines einzigen daraus machen. Damit ist seiner geheiligten Identität mit dem Mondstein und damit zugleich der Verschwörung ein Ende gemacht.«
Herr Franklin wandte sich zu mir.
»Es hilft nichts, wir müssen morgen mit Lady Verinder sprechen!«
»Und warum nicht noch heute Abend?« fragte ich.
»Es wäre doch möglich, daß die Indier inzwischen wieder herkämen.«
Herr Murthwaite antwortete mir, bevor noch Herr Franklin reden konnte: »Die Indier werden es nicht riskieren, noch diesen Abend zurückzukommen; sie bedienen sich fast bei keiner Gelegenheit des direkten Weges, am wenigsten bei einer Affaire wie diese, wo das geringste Versehen für die Erreichung ihres Zweckes verhängnißvoll werden könnte.«
»Wenn nun aber die Spitzbuben verwegener wären, als Sie annehmen?« fuhr ich fort.
»Ja diesem Falle,« sagte Herr Murthwaite »lassen Sie die Hunde los! Haben Sie große Hunde hier auf dem Gut?«
»Zwei, Herr Murthwaite einen Kettenhund und einen Bluthund.«
»Das ist genug, die Hunde haben in unserm Fall den großen Vorzug, sich durch keine Skrupel über die Heiligkeit des menschlichen Lebens beirren zu lassen.«
Die Töne des Klaviers drangen bei diesen Worten des Herrn Murthwaite aus dem Salon zu uns. Herr Murthwaite warf seine Zigarre weg und ergriff Herrn Franklins Arm, um zu den Damen zurückzukehren. Ich beobachtete, daß der Himmel sich rasch bewölkte, während ich ihnen in’s Haus folgte. Herr Murthwaite bemerkte dies gleichfalls; er wandte sich nach mir um und sagte in seiner sonderbar trocknen Weise: »Die Indier werden heute Abend ihre Regenschirme gebrauchen, Herr Betteredge!« Er konnte wohl über die Sache scherzen, aber ich war kein berühmter Reisender; mein Weg in dieser Welt hatte mich nicht daran gewöhnt, unter Dieben und Mördern in den entferntesten Gegenden der Welt Katze und Maus um mein Leben zu spielen.
Ich ging in mein kleines Zimmer, setzte mich, um mich abzukühlen, in meinen Lehnstuhl und dachte rathlos darüber nach, was jetzt zu thun sei.
In dieser ängstlichen Gemüthsverfassung hätten andere Menschen sich vielleicht zu einer fieberhaften Aufregung gesteigert. Ich machte es anders: ich zündete mir eine Pfeife an und fing an in Robinson Crusoe zu blättern.
Bevor ich noch fünf Minuten darin gelesen hatte, stieß ich auf folgende merkwürdige Stelle Seite 161:
»Die Furcht vor Gefahren ist zehntausendmal so beängstigend als die Gefahr selbst, wenn sie uns vor die Augen tritt, und die Last der Angst ist viel drückender als das Übel selbst, vor dem wir uns fürchten.«
Um an einen solchen Ausspruch Robinson Crusoe’s nicht zu glauben, müßte Einer im Kopfe nicht recht richtig oder von Selbstüberhebung völlig verblendet sein.
Ich war schon lange bei meiner zweiten Pfeife und saß noch immer in Bewunderung dieses merkwürdigen Buches verloren da, als Penelope, die den Thee herumgereicht hatte, zu mir kam, um mir über den Zustand der Dinge im Salon Bericht zu erstatten. Bei ihrem Fortgehen hatten eben die Dragoner angefangen, ein Duett zu singen, dessen Text mit einem großen »Oh!« anfing. Mylady hatte sich zum ersten Male, so lange Penelope denken konnte, verschiedene Versehen beim Whistspiel zu Schulden kommen lassen. Der große Reisende war in einer Ecke eingeschlafen.« Herr Franklin hatte seinen Witz auf Kosten der Damenwohlthätigkeit an Herrn Godfrey ausgelassen, und Herr Godfrey hatte die Hiebe schärfer pariert, als einem Manne von so wohlwollendem Wesen anstand. Fräulein Rachel war damit beschäftigt gewesen, anscheinend Mrs. Threadgall zu beschwichtigen, indem sie ihre Photographien zeigte, in der That aber Herrn Franklin verstohlene Blicke zuzuwerfen, welche einem intelligenten Kammermädchen nicht einen Augenblick entgehen konnten. Den Doktor Herrn Candy hatte sie vermißt: er war aus geheimnißvolle Weise aus dem Salon verschwunden, war dann plötzlich wieder ebenso geheimnißvoll zurückgekommen und hatte sich in eine Unterhaltung mit Herrn Godfrey eingelassen. Im Ganzen ging es besser, als man nach dem Verlauf des Mittagessens hätte hoffen können. Wenn die Sache sich nur noch eine Stunde halten ließ, so führte die alte Mutter Zeit die Wagen der Gäste und erlöste uns von ihnen Allen.
Alles in dieser Welt geht vorüber und selbst die tröstende Wirkung Robinson Crusoes ging vorüber, als Penelope mich wieder verließ. Ich wurde wieder unruhig und beschloß, noch einmal durch den Garten zu gehen, bevor der drohende Regen zu fallen anfing. Statt des Dieners, der doch nur eine menschliche Nase hatte und mir daher bei möglichen Ereignissen nutzlos gewesen wäre, nahm ich den Bluthund mit mir, auf dessen sichere Spürnase man sich verlassen konnte. Wir gingen durch den ganzen Garten bis aus die Landstraße und kamen ebenso klug, wie wir gegangen waren, wieder zurück, denn es war uns kein herumstreifendes menschliches Wesen begegnet Ich kettete also den Hund wieder an, nahm meinen Weg wieder längs der Gebüsche und begegnete Zweien unserer Herren, die eben den Salon verlassen hatten. Es waren Herr Candy und Herr Godfrey noch immer wie vorher nach Penelopes Bericht in lebhafter Unterhaltung begriffen und über ihre eigenen Witze lachend. Es kam mir sonderbar vor, daß diese beiden Männer sich befreundet haben sollten, ich ging aber natürlich, anscheinend ohne mich irgend um sie zu kümmern, an ihnen vorüber.
Die Ankunft der Wagen schien das Signal für den Ausbruch des Regens zu sein. Es goß, als ob es die ganze Nacht nicht wieder aufhören wolle.
Mit Ausnahme des Doktors, für den ein offener Einspänner bereit stand, fuhr die übrige Gesellschaft wohlverwahrt in geschlossenen Wagen nach Hause. Ich drückte Herrn Candy meine Besorgnis aus, er werde vom Regen durchnäßt werden, worauf er, mir erwiderte, es wundere ihn, daß ich so alt geworden sei, ohne zu wissen, daß die Haut eines Arztes wasserdicht sein müsse. So fuhr er über seinen kleinen Selbstwitz lachend im Regen fort und so wurden wir unsere Mittagsgesellschaft los.
Was ich nun zunächst zu berichten habe, ist der Verlauf der Nacht.
Elftes Kapitel.
Als die letzten Gäste weggefahren waren, ging ich wieder in die Halle, wo Samuel an dem Seitentisch mit Cognac und Sodawasser stand. Mylady und Fräulein Rachel traten eben, von beiden Herren gefolgt, aus dem Salon. Herr Godfrey nahm etwas von jenen Getränken, Herr Franklin aber nahm nichts zu sich. Er sah sehr abgespannt aus und setzte sich nieder: die Unterhaltung an diesem Geburtstag war ihm, wie mir schien, zu viel geworden.
Mylady warf, indem sie den Herren gute Nacht sagte, noch einen scharfen Blick aus das Vermächtniß des bösen Obersten, das an der Brust ihrer Tochter glänzte. »Rachel,« fragte sie, »wo willst Du Deinen Diamanten heute Nacht hinlegen?«
Das Fräulein war in sehr ausgelassener Stimmung, so recht aufgelegt, dummes Zeug zu reden, wie es junge Mädchen am Ende eines aufregenden Tages wohl zu sein pflegen. Zuerst erklärte sie, sie wisse nicht, wohin sie den Diamanten legen solle. Dann sagte sie, natürlich auf ihren Toilette-Tisch mit ihren anderen Sachen. Dann erinnerte sie sich wieder, daß der Diamant sie mit seinem mondlichtartigen Scheine inkommodieren und während des Dunkels der Nacht erschrecken konnte. Dann wieder fiel ihr ein indisches Schränkchen ein, das in ihrem Wohnzimmer stand, und sie beschloß sofort, den indischen Diamanten in das indische Schränkchen zu legen,