Doch eines Morgens war sie erwacht und hatte die Ahnung von etwas völlig anderem in sich gespürt. Sie war nicht wie sonst vom Sinuston ihres Morpheustrons aus ihrer Ruhephase gerissen worden, sondern irgendwie allmählich von selber aus dem Schlaf in den Tag geglitten. Neben der Tatsache, dass ihr „Tron“ offensichtlich einen Defekt hatte und der völlig ungewohnten Befürchtung, vielleicht zu spät zum Job zu kommen, drängte sich ihr da noch etwas anderes auf. Was war da? Was streckte da aus dem Schlaf völlig unbekannte Fühler nach ihr aus? Sie sprang nicht wie gewohnt gleich auf, sondern rührte sich nicht, blieb einfach liegen und spürte intensiv nach. Zunächst nahm sie nur Äußerliches wahr: Das Gewicht ihres ausgestreckten Körpers auf dem RestBoard. Die Decke, die etwas über ihren aufgerichteten Zehen spannte. Ein leichtes Jucken an der Nase, aber nicht so stark, dass sie sich hätte kratzen müssen. Das Licht, das schräg durch das Bullauge ihres Hexagons fiel. Allmählich drang sie tiefer. Da war die sachte Empfindung von etwas, dass sie während ihrer Ruhephase erlebt hatte. Wie konnte das sein? Sie hatte nur wie immer auf ihrem Board gelegen und ihre sieben MacroTakte dauernde Entspannungsphase durchgeführt, um ihre Ressourcen für den nächsten Tag wieder aufzuladen. Nicht mehr und nicht weniger. Da war sonst nie etwas. Doch heute war es anders.
Domescraperhoch war sie in der Luft gewabert. Über eine Landschaft geschwebt. Über Berge, Täler, Flüsse und mit Wäldern bestandene Ebenen, die es so in der Urb nicht gab. War gemächlich in unterschiedliche Höhen mäandriert. Hatte windbrausende Geschwindigkeit aufgenommen, bis die Konturen der Welt unter ihr verschwammen. Sich verlangsamt, bis die Luft zu einem leichten Säuseln wurde und sich jedes Detail unter ihr scharf stellte. Ganz wie es ihr beliebte. Ein grenzenloses Glücksgefühl war in ihr aufgestiegen. Sie durfte aber nicht zu hoch fliegen. Einen bestimmten Abstand zum Untergrund nicht überschreiten. Sonst hätte es sie weggerissen. Das taxierende Spiel mit der Gefahr der Grenze rief ein unbekanntes, prickelndes Kitzeln in ihrem Bauch hervor. Als sie sich lustvoll zwischen Höhen und Tiefen eingeschwungen hatte, fühlte sie, wie sie sich im schwerelosen Dahingleiten auflöste. In der unbekannten Landschaft, die unter ihr vorbeizog. In der Bläue des unendlichen Himmels, die sie trug. Und doch war sie völlig auf den innersten Kern ihres Selbst konzentriert gewesen.
So sehr sie auch versucht hatte, das Empfinden festzuhalten, verblasste es allmählich vor der Folie des sich unabwendbar aufdrängenden Alltags und sie war unendlich traurig, dieses unglaubliche Gefühl zu verlieren. Doch gelang es ihr, einen Abglanz davon festzuhalten und in ihren Tag hinüberzuretten.
In den nächsten Takten hatte sie dann immer wieder solche Erlebnisse und war völlig von diesen Zuständen vereinnahmt worden. Je mehr sie lernte, ihre Erfahrungen zu konkretisieren und sich bewusst zu machen, desto mehr schienen sie ihr einen Ausweg aus der endlosen Tristesse ihres Alltags zu bieten.
Was genau es mit dem Träumen auf sich hatte, sollte sie erst viel später von den Oneironauten erfahren. Vorerst hatte sie das, dem sie nach so mancher Ruhephase nachspürte, für sich als „aus dem Takt gefallen sein“ bezeichnet.
Nachdem sie ihr Eye unschädlich gemacht hatte, rollte sich Esther ihre EmptyFace-Maske über Kopf und Gesicht und zupfte sie solange zurecht, bis sie an Ohren, Augen, Nase und Mund richtig anlag. Die Iris ihrer auffallend grünen Augen verbarg sie hinter dem Hypergel grauer Kontaktlinsen. Zwar spannte die Latexhülle zunächst unangenehm auf ihrem Schädel, doch ertrug sie dieses Gefühl von Enge und Abgeschnürtsein in der Hoffnung, sich frei bewegen zu können, ohne erkannt zu werden. Sobald die Gesichtsfolie Körpertemperatur angenommen hatte, würde sich das ohnehin geben. Die Maske war auf der Grundlage der übereinstimmenden Merkmale der MimikScans hunderter Citizens entwickelt worden, so dass ihr Ausdruck so glatt und nichtssagend war, als wäre ihre Trägerin unsichtbar. Wahrscheinlich würde sich niemand an sie erinnern, auch wenn er ihr stundenlang gegenübergesessen hätte. Hier wurde Mittelung eingesetzt, um das System mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, pflegte Kassandra, die Seherin ihrer Sektion der Oneironauten, zu sagen.
Als Esther aus ihrem Hexagon in den CircuitWalk ihres Habitats trat, endete das Gefühl der Freiheit abrupt, das sie nach der Deaktivierung ihres Eyes überkommen hatte. Sie konnte die Linsen der überall montierten stationären Aufnahmeeinheiten, der in den Gängen zirkulierenden mobilen Drohnen und der MatchingEyes, die über den Köpfen der anderen Citizens schwebten, wie zudringliche Blicke, die ihren Körper abtasteten, fast körperlich spüren. Sie war hoch nervös. In dem abgeschirmten Refugium der Nauten in der Mnemosyne-Lösung im Tank zu liegen und seine Träume zu analysieren, war etwas völlig anderes, als in aller Öffentlichkeit gegen das System aktiv zu werden. Sie war die allgegenwärtige Beobachtung und Überwachung so gewohnt, dass sie sich nur schwer vorstellen konnte, direkt unter den Augen des Systems MorpheustronDisrupter zu positionieren.
Auf dem Weg zum Lift kam ihr einer ihrer FirstMates entgegen, Greve2m8, mit dem sie die UniqueSchool besucht hatte und dessen Hexagon ein Stück den CircuitWalk hinunter lag. Wie sie während der Mittelungen der letzten MatchingSessions erfahren hatte, war Greve seit Neuestem Anhänger des RhythmClimbing, eines von CreativeClimb.Inc. massiv auf allen Kanälen des OmniNet forcierten neuen Trends. Hier erklomm man zum Takt eigens kompilierter Klangfolgen Kletterwände und gruppierte sich dabei mit weiteren Climbern zu Teams, die jeweils synchron die Bewegungen anderer Teams widerspiegelten. Das Ganze gipfelte dann in einer symmetrisch schwingenden Aufwärtsbewegung der Teams aller Beteiligten. Mit dem ihm eigenen Sendungsbewusstsein für seine Marken wurde Greve nicht müde, seinen Mates die MovingPics der so entstehenden LevitationChoreografien zu promoten, um neue Anhänger für seine aktuelle Obsession zu werben. Im Gegensatz zu Esthers SocialScore war der seine kein Fake, denn Greve setzte voll auf die Empfehlungen seines BuyingGuards und folgte den aktuell gaußen Marketing-Trends wie ein MatchingEye seinem Citizen, ohne dabei zu merken, dass der absolut ultimative Thrill ständig immer wieder aufs Neue versprochen wurde. Im Grunde schien das eigentlich auch sonst niemand zu bemerken.
Greve kam von seinem Job als DataAggregator bei der MatchingAdministration und würde wohl gleich wieder zu einer ClimbingSession aufbrechen. Wahrscheinlich kam sie, um den Schein zu wahren, nicht darum herum, sich demnächst ebenfalls an einer dementsprechenden Kletterwand abzustrampeln. Da sie ihrem Mate jetzt nicht mehr ausweichen konnte, wollte sie ihn schon grüßen und wie immer ihren unverbindlichen Smalltalk abspulen, der unter Beweis stellen würde, in welch hohem Grad sie gemittelt war und interessiert an allen aktuellen Trends teilnahm und natürlich auch die gaußen Moves seiner RhythmClimbings verfolgte, als ihr die leichte Spannung auf ihrer Gesichtshaut ins Bewusstsein rief, dass sie ja ihre Maske trug. Greve ging an ihr vorbei, als wäre sie unsichtbar. Esther atmete auf. Ganz offensichtlich erfüllte ihre Gesichtsfolie ihren Zweck und es würde schon alles gut gehen. Etwas zuversichtlicher betrat sie den Lift, der sie nach kurzer Fahrt in das Basement ihres Habitats entließ. Es war exakt Takt 72.000.
Auf dem MainWalk zwischen den Habitaten herrschte Feierabendstimmung. In den Kuppeln der Domes war die Abendanimation angebrochen und die über ihr auf den Strings der AntiGrav dicht an dicht dahinschwebenden Cabs kurvten lange Lichtschleifen in den künstlichen Himmel. Die spiegelnden Fassaden der umliegenden Habitate, OfficeTower und ShoppingCenter strahlten in antiseptisch klaren Komplementärfarben. Über der in der Mitte des Grounds ragenden Dependance von Pear.Inc. kreiste das dreidimensionale SculptureLogo in Form einer riesigen Birne, über die in weithin sichtbarer Schrift ständig wechselnde Werbebotschaften liefen. Andere Anbieter mit geringerer Marktmacht mussten sich damit begnügen, ihre Werbung auf flachen Boards zu streamen, die Esther deswegen aber als nicht weniger aufdringlich empfand, weil sie überall ihr Blickfeld infiltrierten. Immerhin sah sie ab und an auch die Botschaft der Oneironauten