Dismatched: View und Brachvogel. Bernd Boden. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Boden
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750210097
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sollte, gerade ausgesetzt hatte.

      Den olfaktorischen Angeboten der Hersteller von BodyCare-Produkten konn­te sie dagegen nicht entgehen. Den gesamten Walk entlang waren SmellJets angebracht, die je nachdem, welche Gruppe von Citizens gerade an ihnen vorbeizog, die zu ihrem gemittelten Einkaufsprofil passenden Düfte emittierten. Sobald die nächste Gruppe nahte, wurde der aktuelle Geruch neutralisiert und von einem neuen überlagert. Da Esther nicht wie alle anderen in einer Gruppe, sondern alleine unterwegs war, registrierten die Sensoren der Jets sie als nicht kaufkräftig genug, und sie schwamm in einer Wolke ständig wechselnder penetranter Gerüche.

      Die Citizens, die zu Fuß oder in Pulks von Hovern den MainWalk bevölkerten, strebten zu den MarketingEvents, den PromoShows der HoloCines, in die SensualCaves, die GameMiles, die BodyPower-Center oder in eines der zahlreichen LoveGyms, die auf dem JoyCircle des Grounds lagen. Die aktuell gaußen Farben, Outfits, Gadgets und Accessoires wurden zur Schau getragen. Direkt vor Esther produzierte sich eine Gestalt in den grellsten CoatingColours, die dort, wo sie direkt auf der Haut auflagen, je nach Veränderung des Hautwiderstands anders changierten. Und mit freier Haut geizte die Citizen nicht; wahrscheinlich war sie auf dem Weg in ein LoveGym. An beiden Handgelenken trug sie AeroFlats, die sie synchron bediente. Da Esther aus ihrem Blickwinkel die Projektionsfläche der Flats nicht wahrnehmen konnte, sah es aus, als tippe die Citizen mit beiden Händen in der leeren Luft herum.

      Sie entdeckte etliche SecurityCorps in ihren charakteristischen grauen Carbonharnischen in der Menge. Sie hatte weder gesehen noch davon gehört, dass ein SecCorp jemals seinen Paralysator eingesetzt hätte, doch gewiss gab es eine vom Board of PredictiveProfiling auf der Basis welcher Parameter auch immer ausgewiesene Korrelation, dass pro Menge X Citizens in Feierabendlaune ein ganz bestimmter Prozentsatz von Y SecCorps zu patrouillieren hatte. Und wahrscheinlich war dieser Prozentsatz auf der nach oben offenen Sicherheitsskala eher zu hoch als zu niedrig angesetzt.

      Die Gesprächsfetzen, die sie aufschnappte, drehten sich um neue und alte Marken, neue und alte Trends und darum, ob der Relaunch ehe­maliger Kulttrends wohl greifen würde. Es wurde heftig darüber diskutiert, wann welcher Anbieter welche Innovation auf den Markt bringen könnte oder würde. Es ging darum, wer, was schon angetestet oder länger in Gebrauch hatte und wer, wem, was empfehlen konnte. Es ging darum, ob das eigene Psycho­gramm oder der Kauftrend seiner SocialUnit mit bestimmten Produkten oder Services kompatibel war und was die BuyingGuards dazu zu sagen hatten. Und natürlich ging es um die Abweichungen von Mates, die einem MatchingLoop unterzogen worden waren.

      „Kennt ihr Mea7y2? Der ServiceTrend ihrer SocialUnit geht signifikant in Richtung Convenience-Food. Die rühren in ihrer Küche keinen Finger, bestellen sich alles fertig ins Habitat. Übrigens soll da PleasureMeal.Inc. gauße Sachen haben. Die erwärmen sich, nachdem du die Folie aufgerissen hast, durch die Zufuhr von Sauerstoff von selbst. Aber egal. Jedenfalls fing diese Mea auf einmal an, selber Sachen zu kochen. Also ich hätte das ja nicht essen wollen. Und was soll das überhaupt? Entweder ich bin in einer Unit, die kocht oder in einer, die Fertiggerichte mag. Und wenn man unterschiedliche Fertiggerichte mag, ist das ja auch in Ordnung. Produktvielfalt soll ja sein. Aber so was? Wie will die je mit ihrem BuyingGuard klarkommen und durch eine einigermaßen stringente Einkaufsbiografie ihr Psychogramm optimieren, wenn sie gegen den Trend der eigenen Unit angeht und sich in solch grundlegenden Merkmalsausprägungen nicht mit ihren Mates matcht?“

      Esther wandte sich ab. Sie konnte und wollte das alles nicht mehr hören. Früher war es auch für sie megagauß gewesen, völlig in dieser kurzlebigen und oberflächlichen Welt des Marketing im künstlichen Kosmos der Produkte aufzugehen. Doch nach ihrem ersten Traum war sie immer öfter „aus dem Takt gefallen.“ Was geschah mit ihr? Woher kamen diese Bilder, Gefühle, Eingebungen, Eindrücke und Gesichte, die sie stärker berührten als alles, was sie bisher gesehen und erlebt hatte? Je intensiver sie die verlockenden Verheißungen ihre Träume umschmeichelten, desto eindrücklicher setzte sich die Ahnung in ihr fest, hier aus völlig unbekannten Tiefen von etwas berührt zu werden, das sie weiter bringen würde, als sämtliche gaußen Trends, Produktinnovationen und lebenserleichternden Services zusammen. Die Jagd von Innovation zu Innovation glich immer mehr einem auf Hochtouren betriebenen Leerlauf. Als sich die Erfahrung des Träumens dann verstetigte und es ihr gelungen war, ihre Traumbilder bewusst festzuhalten und mit ihrem Alltag zu kontrastieren, war in ihr die Erkenntnis gereift, dass ihr Bestreben, immer im signifikanten Trend ihrer SocialUnit mit zu schwimmen, ihr zwar ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit vermittelte, sie letztlich aber dazu verurteilte, auf der Stelle zu treten. Die Mittelung nahm ihr nicht nur die Verantwortung, eigenständig zu sich selbst zu finden, sondern verstellte ihr ganz grundsätzlich den Weg dazu.

      Diese Einsicht ging mit einer existentiellen Verunsicherung einher. Da sie mit niemandem über ihre Träume und die Irritationen, die sie in ihr auslösten, reden konnte, fühlte sie sich zunehmend getrieben, Votings abzugeben, Wahlen zu treffen und Kategorisierungen vorzunehmen, die von ihrem bisherigen Verhalten und vom Mittel ihrer SocialUnit abwichen. Immer öfter wurde sie von ihren Mates in MatchingLoops eingebunden und ehe sie sich versah, drohte sie völlig abzudriften, ohne jedoch den neuen Weg, den ihr ihre Träume zu weisen schienen, konkret beschreiten zu können.

      In dieser Situation waren die Oneironauten an sie herangetreten und sie war glücklich gewesen, endlich eine Orientierung gefunden zu haben und hatte sich, mit allem, was ihr noch geblieben war, auf die Vision der Traumzeit eingelassen.

      Neben dem Träumen und der nun von berufener Seite angeleiteten Beschäftigung mit ihren Gesichten erfuhr Esthers Leben durch die Oneironauten eine weitere Bereicherung: Bücher lesen! Die ihr von den Oneironauten zugänglich gemachten alten Bücher aus der Zeit vor dem Finalen Kataklysmus zu lesen, erwies sich als pure Wonne für ihr vom Marketing schaler Angebote ausgetrocknetes Herz. Die Botschaften, die ihr längst vergangene Menschen ins Hirn raunten, deren Schicksal noch nicht dem unerbittlichen, alles Lebenswerte verdrängenden Systemtakt überantwortet war, erschlossen ihr Welten, die denen, derer sie im Traum teilhaftig wurde, in nichts nachstanden. Esthers bevorzugte Fake-Schleifen in die Traumzeit waren Auszeiten des Lesens und sie arbeitete nun bewusst daran, ihrem Gefühl, „aus dem Takt gefallen zu sein“, eine konstruktive Richtung zu geben. Wenn sie las oder wie die antike Göttin der Erinnerung, Mnemosyne, im Refugium der Oneironauten der gleichnamigen Salzwasserlösung des Traumtanks entstieg – „etwas entsteigen“, auch so ein Wort, das sie im Lesen kennen gelernt hatte – erfuhr sie Dinge über sich und das Leben, die ihr unter dem Diktat der Mittelung nie zugänglich geworden wären.

      Wie betonte Kassandra immer:

      „Das stählerne Gehäuse hundertprozentiger Berechenbarkeit und Sicherheit betrügt uns um jede Möglichkeit herauszufinden, wer wir wirklich sind und vor allem, wer wir sein könnten. Die Mittelung stutzt unser Potential auf konfektionierbare Normgrößen zurück und die allgegenwärtige Beobachtung durch die Agenten des Systems legt sich wie Mehltau über unser Leben. Erst Träume zu träumen und Bücher zu lesen öffnet uns die Pforten zu unserem wahren Sein.“

      Die ersten Generationen von Citizens in den Anfängen der Urb hatten noch Bücher gekannt und sie hatten auch geträumt und sich an ihre Träume erinnert. Mit zunehmendem Erstarken des Systems aber war irgendwann der Punkt erreicht, an dem die meisten Bücher den systematischen Cleanings zum Opfer gefallen waren und die damals noch nicht mit den MatchingEyes verschmolzenen Morpheus­trone die Erinnerungen an die nächtlichen Träume flächendeckend abgeschnitten hatten. Einige Generationen weiter hätte der bei weitem überwiegende Teil der Citizens auf die Frage, was sie gerade lasen oder ob und was sie letzte Nacht geträumt hatten, mit völligem Unverständnis reagiert.

      Doch waren das Träumen und seine Symbole viel zu tief im evolutionären Erbe und dem kollektiven Unbewussten der Menschen verwurzelt, als dass sie innerhalb weniger Generationen unter dem Takt des Systems hätten ausgerottet werden können. Und so konnten die Mor­pheustrone nicht das Träumen als solches verhindern, sondern lediglich die Alphawellen stören, die zwischen den unbewussten und bewussten Hirnarealen der Träumenden vermittelten, und so einen undurchsichtigen Firnis über die Träume legen, der die morgendliche Erinnerung daran verblassen ließ. Diesen Firnis zu zerreißen, hatten sich die Onei­ronauten zur Aufgabe gemacht.

      Citizens, die sich am System vorbei