Das Leben auf der Erde war Paradies und Jammertal zugleich. Er aber wollte das Schlechte, Hässliche, Sinnlose nicht übernehmen, sondern allein das Wahre, Schöne, Gute. Er entschloss sich, der Ungereimtheit und Sinnlosigkeit des Daseins etwas Schönes entgegen zu setzen. Fortan würde er dichten, die vielfach hässliche und sinnlose Realität mit dem Firnis wohlgestalteter Reime überziehen. In Zukunft wollte er, wo immer möglich, in Reimen denken und auch sprechen. Er wollte dichten!
CaseOne sollte sein persönliches Gedächtnis lange nicht wiedererlangen. Doch würde er nichts entbehren oder vermissen, denn er würde völlig in der prallen Fülle des Lebensgefühls und der Weisheit aufgehen, die ihm seine cerebralen Implantate der Datenbanken der verlorenen Zeiten vermittelten.
Sommersaat; erster Umlauf im fünfhundertvierundfünfzigsten Umlaufzwölft der Zeitläufte der Mondin
„Liebe Luna, sanfter Stern,
wir haben dich nur allzu gern,
gib in der Nacht,
wohl auf uns acht,
und schenk uns auch bei Tag Geleit
für Demut und Besonnenheit.“
Gebet der Milchkinder
Ein Knabling von vielleicht sechs Umlaufzwölfen stand neben einem Hackklotz, auf dem ein gerupftes Huhn ausgebreitet lag. Die wächsernen Krallen starr gen Himmel gestreckt, baumelte der Kopf an dem unnatürlich lang wirkenden Hals erbarmungswürdig längs des Klotzes herab. In der gelblichen, mit Fett unterlegten Haut hatten die ausgerissenen Federkiele viele kleine Krater hinterlassen. Die Federn lagen um den Hackklotz zerstreut auf dem Boden. Der kleine Junge meinte, das Huhn gekannt zu haben, als es noch Federn hatte und nach Körnern pickend mit ruckendem Kopf auf dem Hof herumstolziert war. Nun musste es doch frieren. Wie es wohl wäre, selbst solch ein Federkleid zu haben? Fliegen würde er damit wohl nicht können, da mit ein paar Federn aus seinen Armen noch lange keine Flügel würden, aber es wäre vielleicht interessant zu sehen, ob die Federn wärmer wären als sein Hemd oder welches Gefühl auf der Haut entstehen würde, wenn der Wind über die Federn strich. Erst einmal zog er sein Hemd aus und dann musste er es irgendwie schaffen, dass die Federn auf seiner Haut haften blieben. Ohne lange zu überlegen, lief er zu einer Pfütze, in der nach dem Regen der Nacht noch das Wasser stand, tauchte beide Hände in die lauwarme Nässe, wirbelte vom Grund etwas Schlamm auf und verrieb die mit Lehm gesättigte Pampe über Arme, Brust und Beine und soweit er um sich herumreichen konnte, auch auf seinem Rücken. Dann sprang er zum Hackklotz zurück und wälzte sich solange in den Federn herum, bis die meisten davon an seiner Haut klebten. Da das Huhn vor nicht allzu langer Zeit gerupft worden war, hafteten an den Federkielen noch frische Reste von Fett und Blut, die noch nicht eingetrocknet waren und sich mit dem Lehm auf seiner Haut verbanden. Der kleine Junge stand auf und sah an sich herunter. Er sah nicht aus wie ein Huhn. Da waren noch viele Stellen, die völlig frei von Federn waren. Aber er war ja auch viel größer als solch ein Federvieh. Auch bedeckten ihn große und kleine Federn ganz unregelmäßig und waren nicht in eine bestimmte Richtung ausgerichtet. Richtig spüren konnte er sein neues Federkleid auch nicht, denn der allmählich trocknende Lehm spannte auf seiner Haut, so dass sie wie mit einem Panzer überzogen war. Aber all das war ihm erst einmal egal. Er war jetzt ein Vogel und wollte hinunter zu Fluss.
Als eine Mutter, sie mochte etwa achtzehn Umlaufzwölfe zählen, am späten Nachmittag den Knabling fand, saß er auf einem Stück Unland am Fluss und hatte einen hohen Turm aus Kieseln vor sich aufgetürmt, den er mit kleinen Stecken abgestützt hatte. Die Mutter mochte den Kleinen. Zwar gehörte er nicht zu ihren Zöglingen, doch war er ihr schon verschiedentlich durch sein keckes und verständiges Wesen aufgefallen. Er war der Pfiffigste aus seiner Gruppe und sprühte nur so vor Ideen und Tatendrang. Leider brachte das aber auch mit sich, dass er sich öfters einer plötzlichen Eingebung folgend von der Gruppe entfernte und dann einfach verschwunden blieb. Die Mütter hatten schon überall vergeblich gesucht, als ihr dieser Platz am Fluss einfiel, an dem der Kleine schon einmal gefunden worden war. Richtig, da saß er ja.
Über und über mit Federn bedeckt, die von einem der eben geschlachteten Hühner stammen mussten, bot er einen recht absonderlichen Anblick. Der Turm aus flachen Flusskieseln, den er errichtet hatte, war so geschickt durch seitlich in die Erde gerammte Stöckchen gesichert, dass er zu einer erstaunlichen Höhe gediehen war.
„Hier steckst du also.“
Der Kleine wandte sich von seinem Turm ab und sah fragend zu ihr herüber. Er sah aus wie ein ungeschlachtes, völlig aus der Form geratenes Federwesen in der Mauser. Eigentlich wollte die Mutter den Jungen ausschimpfen, doch dann musste sie unwillkürlich lachen.
„Was für ein seltsames Tier bist du denn?“
Auf das Unland blickend, das regelmäßig vom Fluss überschwemmt wurde, beantwortete sie sich ihre Frage dann selbst.
„Du bist mir schon ein rechter Brachvogel. Du weißt aber doch ganz genau, dass du nicht allein von deiner Gruppe fortlaufen sollst. Jetzt aber hopp, zurück in den Kreis.“
Sie nahm das Kind an der Hand, das sich widerstandslos von ihr führen ließ. Sie stiegen eine Weile den vom Ufer aufwärts verlaufenden Pfad hinan, überwanden mehrere aus Weiden geflochtene Hürden, unter denen der Kleine hindurchgekrabbelt sein musste, kamen an einer Scheune und schließlich dem Hackklotz vorbei, von dem das Huhn, Luna sei es gedankt, inzwischen verschwunden war, querten die Hühner- und Kaninchenställe, bis sie schließlich einen von niedrigen Hütten umsäumten Platz erreichten. Hier saßen, auf fünf Kreise verteilt, etwa fünfzig Knablinge gleichen Alters, die jeweils von einer Frau beaufsichtigt wurden.
Die Mutter steuerte die mittlere Gruppe an und sagte, den Kleinen in den Kreis schiebend, mehr zu den anderen Frauen als den im Rund sitzenden Kindern:
„Hier führe ich euch unseren wieder einmal verloren gegangen Brachvogel zu. In dieser denkwürdigen Aufmachung saß er auf der Brache unten am Fluss und baute Steintürme.“
„Gut, dass du ihn gefunden hast, Ayiah“, sagte die Älteste Mutter. „Ich habe mir schon ernsthafte Sorgen gemacht. Wir können es uns einfach nicht leisten, auch nur einen von diesen zu verlieren.“
Die anderen Mütter blickten den Kleinen mit gerunzelten Brauen missbilligend an, die Knablinge, in deren Mitte er wie ein von einem fremden Stern gefallenes Wesen stand, aber lachten ihn unverhohlen aus, während sie im Chor skandierten:
„Brachvogel – Federmogel, Brachvogel – Federmogel“.
Bis auf einen, Agror geheißen, der ihn neugierig und fast schon ein wenig bewundernd ansah.
Von diesem Moment an waren Brachvogel und Agror unzertrennlich. Beide waren einander bislang noch nicht aufgefallen. Doch als Brachvogel da mitten im Kreis stand und nicht wusste, wie ihm geschah, neigte sich sein Herz natürlich dem zu, der ihn nicht verhöhnte. Und für Agror verkörperte Brachvogel in seinem missratenen Federkleid trotz aller Lächerlichkeit etwas Besonderes, Andersartiges, das ihn aus der Enge und Gewöhnlichkeit der eigenen Person herauszuführen versprach.
Während der Abendbesinnung suchte Brachvogel dann auch die Nähe Agrors, stellte sich neben ihn in den Kreis und besiegelte ihre neue Freundschaft mit einem kurzen Nicken. Alle Knablinge fassten einander an den Händen und richteten ihren Blick dorthin, wo gemäß der Anweisung von Mutter Leial am wolkenverhangenen Himmel das Nachtgestirn stehen musste. Gemeinsam sprachen sie ihre Bitte an die Mondin, die sie am Ende jeden Tages anstimmten, bevor sie sich zur Nacht niederlegten:
„Liebe Luna, sanfter Stern,
wir