Würden die Menschen in allem den Kreisläufen der Natur folgen und sich ihnen gänzlich einpassen, könnten sie nur schwerlich überleben. Würden sie andererseits aber der Natur ungehemmt ihren Willen aufzwingen, wäre diese und damit auch der in sie eingebundene Mensch gefährdet. Es galt also ein empfindliches Gleichgewicht zu wahren.
Ayiah entzog Leial ihre linke Hand und stemmte sie in die Hüfte zum Zeichen, dass sie sich äußern wollte.
„Sprich, Ayiah“, sagte die Älteste Mutter
„Hat Brachvogel denn jemals Gewalt gegen andere, die Natur oder sein Fürsorgewesen ausgeübt?“, richtete sich Ayiah direkt an Leial.
Diese schüttelte den Kopf, denn das konnte sie nicht mit Fug behaupten und auch den übrigen Müttern war kein einziger derartiger Fall bekannt.
„Sein alleiniger Fehl ist also, dass er seinen eigenen Kopf hat und deshalb schwer einzugliedern ist“, fuhr Ayiah fort. „Ich glaube, wir werden in Zukunft solche Köpfe brauchen, um Missernten, den Launen der Witterung, den Wanderungen des Wildes, dem Beben der Erde und anderem Unbill wirkungsvoll begegnen zu können. Bedenkt, dass Zeugungsträger nicht nur Mannlinge, sondern auch Frauen im Schoße der Mütter wecken und wenn wir nur die im Körper trägen und im Geiste fügsamen Knablinge zu Zeugungsträgern reifen lassen, wird der Quell unserer Fortpflanzung von einem mächtigen, vielfältigen Strom zu einem kläglichen, einfältigen Rinnsal verkommen. Wir täten deshalb gut daran, Brachvogels Schambeutel nicht leer zu schlagen, sondern ihn zu einem Zeugungsträger heranreifen zu lassen. Wohl aber sollten wir ein besonderes Augenmerk auf ihn haben, denn unstrittig liegt in ihm nicht nur eine Gunst des Schicksals, sondern auch eine Gefahr. Denn eine Güte des Geschicks scheint mir immer damit verbunden zu sein, dass aus ihr auch eine Gefahr erwachsen kann.“
„Mannlinge sind unbelehrbar und ihr ungebrochener Geist wird, wie uns die Geschichte wohl gelehrt hat, zu einer Gefahr für die Schöpfung“, ereiferte sich Leial. „Es ist eine gar arge Wirrnis, dass wir, um Nachkommen zu haben, auf Wesen wie die Mannlinge angewiesen sind. Würde Lunas reiner Geist walten, wäre es uns Frauen gegeben, untereinander Kinder zu zeugen.“
Die Älteste Mutter stützte ihr Kinn in die Hand und sann lange nach. „Für deine jungen Jahre spricht aus deinen Worten eine ungewöhnliche Weitsicht, Ayiah“, beschied sie dann. „Damit die Klave den Widernissen des Schicksals besser trotzen kann, scheint es mir tatsächlich ratsam, ein Wagnis einzugehen. So sei es denn, möge Brachvogel zu einem Zeugungsträger heranreifen.“
In den Mienen der Mütter spiegelte sich zu etwa gleichen Teilen Zustimmung und Ablehnung wider. Leial aber kniff die Lippen zusammen und sah Ayiah, die sie nach ihrer Rede wieder bei der Hand genommen hatte, um den Kreis zu schließen, hasserfüllt an. Ayiah war klar, dass sie nun eine Verantwortung für diesen Knabling Brachvogel trug und es ihr auferlegt war, seinen weiteren Weg zu verfolgen.
Am nächsten Morgen fehlten in den Gruppen der älteren Zöglinge die meisten Gefährten und nur wenige Mütter waren zugegen. Auch Brachvogel vermisste seinen Freund Agror. Aus der Ferne ließ sich leise das dunkle Tönen vernehmen, das, auch wenn es einmal abebbte, den ganzen Tag immer wieder anhob.
Auch die nächste Zeit blieben die Knablinge verschwunden und als sie dann wieder auf den Plan traten, staksten sie mit ungelenken Schritten und steifen Beinen umher wie die Störche und hatten Schmerzen beim Sitzen.
„Was ist euch widerfahren?“ fragte Brachvogel seinen Freund.
„Da war ein großes, dunkles Gedröhn der Drehleiern, ich habe ein abscheuliches Gebräu zu trinken bekommen und dann haben die Mütter irgendetwas mit meinem Schambeutel angestellt. Ich habe große Pein durchlitten“, erwiderte dieser.
Mit dem wiederkehrenden Wechsel der Gestalt des sanften Gestirns und unter dem Ansturm immer weiterer Aufgaben und Prüfungen, denen die Mütter die Knablinge zunehmend aussetzten, geriet dieses Ereignis bald in Vergessenheit. Die Knablinge, die dem großen Gedröhn unmittelbar ausgeliefert waren und die, die es nur aus der Ferne gehört hatten, lebten zusammen wie ehedem und erfuhren durch die Mütter auch die gleiche Behandlung. Erst viel später würde sich herausstellen, dass die beiden Gruppen von Knablingen eine unterschiedliche körperliche Entwicklung nehmen sollten.
Brachvogel und Agrors Zeit in der Stätte der Aufzucht neigte sich allmählich ihrem Ende entgegen. Längst schon riefen sie die Mondin während der Abendbesinnung nicht mehr an wie die kleinen Milchkinder, sondern in der Art der großen Knablinge, die bald in das Leben in der Klave entlassen werden würden. Dazu nahmen sie die Haltung der Demut und Besonnenheit ein, knieten sich hin, drückten ihr Gesäß auf die Fußsohlen, senkten die Brust auf die Oberschenkel, führten die Arme seitlich nach hinten, legten die Handrücken neben die Füße und neigten die Stirn zur Erde. Dergestalt gekauert und auf die Erde hingegossen intonierten sie:
„Oh Große Luna!
Vertrauensvoll an die Erde geschmiegt,
verharren wir hier in tiefer Demut,
uns zu besinnen und in Einklang zu kommen
mit allem, was da lebt und west.
Und wenn wir uns dann erheben,
befleißigen wir uns nicht des aufrechten Ganges,
erhobenen Blickes und raumgreifenden Schrittes
die Erde zu zerstören, in grenzenloser Gier,
sondern, den Kopf besonnen gesenkt,
maßvoll vorwärts uns zu tasten,
uns nur zu nehmen, was wir notwendig brauchen,
das Leben zu hegen und die Dinge zu bewahren,
ganz so, als ob wir nicht auf Erden wandelten.
Damit wir uns nicht selbst zernichten,
wie zu Zeiten der Großen Verderbnis,
sondern in Einklang mit der Schöpfung leben,
immerdar.“
System / ClockedCounter / Update_567 / Takt_19.870.261
„Geckos kleben löst die Traumerinnerung.“
unbekannter Oneironaut
Eng mit dem Gesicht zur Wand ihres Hexagons hin gekauert hockte die Citizen, das linke Bein ausgestreckt und das rechte unter ihrem Gesäß angewinkelt, hinter einer Ecke ihres ManagingDesks; einem der beiden toten Winkel, die nicht vollständig von ihrem MatchingEye eingesehen werden konnten. Vergaußt, sie hasste es, sich derart zu verrenken, aber es war nötig, denn so waren Hinterkopf, linkes Bein und linke Schulter gut sichtbar und solange die Kameralinsen ihres Eyes nicht mehr als 70 Prozent ihrer Körpermasse aus dem Focus verloren, würde kein Alarm ausgelöst werden. Ihre rechte Seite aber war verdeckt und in der gewölbten linken Hand fast verborgen umklammerte sie ein kleines Gadget, das sie mit der rechten hektisch bearbeitete.
Lalic4j8 oder Esther, wie sie in Kreisen der Oneironauten genannt wurde, bereitete sich auf ihren ersten Außeneinsatz vor. Das Gadget, das sie in der Linken barg, war ein DreamKey, eine HackWare, mittels derer sie ihr Drittes Auge