Lukas Wolfgang Börner
Den Tod für Tante Trudl!
Prosa in schwarzem Rosa
Inhaltsverzeichnis
Italienurlaub Zweitausendundsoundsoviel 9
Eine frühere Geschichte, die ich erlebte, als ich gerade zwei Tage hier wohnte 20
Drittens: Tante Trudl spielt mit mir das Kartenspiel des Lebens 49
Wenigstens ein Fünkchen Glück 52
Meine neue beste Freundin – die Qual 65
Der letzte Abend mit der Qual 70
Versuchung
Da sitzt du nun.
Auf dem grauen Schreibtisch liegt die Schokolade.
Der Regen peitscht an die Scheiben. Kalte Fensterscheiben. Du siehst die wippenden Straßenlaternen nicht, die bald links, bald rechts von sich im Pflaster graben. Du schaust nur auf die Schokolade. Fastenzeit. Eine Woche hast du schon geschafft.
Fastenzeit.
Wie schön es ist, wenn man widersteht. Sagt sie.
Wie schön es ist, der Versuchung zu trotzen.
Wie stolz man nachher auf sich sein kann.
Schokolade ist ungesund. Macht schlechte Zähne. Macht dick. Macht süchtig. Macht.
Was für eine schöne Vorstellung, am Ostersonntag das erste Mal wieder etwas Süßes zu naschen. Ein gutes Gewissen zu haben. Stolz auf sich sein zu können.
Aber warum?
Hinter dem Wasserfall ist der Himmel violett. Das Knurren des schwarzen Gewitterhundes erschüttert den Horizont. Unverwandt betrachtest du die Schokolade.
Was wäre es für ein Gefühl, sie in den Mund zu stecken?
Seine eigenen Regeln über Bord zu werfen? Sich hemmungslos der Versuchung hinzugeben? Sich und der ganzen Welt zu offenbaren, dass man nicht widerstehen kann, dass man keine Selbstdisziplin hat.
Was ist das überhaupt, Selbstdisziplin? Ein selbstgestrickter Maulkorb?
Das Gewitter rast herbei. Eben waren noch zehn Sekunden zwischen Donner und Doria. Nun sind es fünf.
Die Welt hält nicht den Mund. Sie zeigt die Zähne.
Und du? Wer bist du überhaupt? Was tust du hier?
Nimm die Schokolade!
Dich wird, während du sie isst, das schlechte Gewissen wie der Stock des zornigen Frauchens peinigen. Die Reue wird schneller ankommen als der zuckersüße Geschmack. Vielleicht wirst du weinen. Vielleicht wirst du kotzen. Vielleicht wirst du die Selbstachtung verlieren. Das einzige, was dir geblieben ist.
Dort hinten bellt der Hund. Schaurig. Die Fenster knacken.
Iss die Schokolade!
Du schreckst hoch. Ohrenbetäubend. Wie Kastanien trommeln die Hagelkörner gegen die Scheiben.
Sie sagt, das Wichtigste wäre, die Regeln zu befolgen. Sie sagt, man dürfe sich nicht den niedersten Trieben ergeben. Das unterscheide einen von den Käfern und den Insekten.
Aber Käfer und Insekten sind Teil dieser Welt. Wie der Hagel. Wie der wüste Gewitterhund. Sie ist nur sie selbst.
Iss die Schokolade! Sie ist nur sie selbst!
Blitz. DONNER!! Wau! Wau wau!! Das Haus schaukelt. Die Straßenlaternen lösen sich vom Asphalt und fliegen davon.
Du wirst dich hassen, wenn du die Schokolade isst. Du wirst es nicht geheim halten können. Nicht vor dir und nicht vor anderen. Selbstdisziplin gehört zur Menschwerdung, sagt sie. Käfer und Insekten, sagt sie. Käfer und Insekten.
Du hast die Schokolade ergriffen. Du hältst sie schnüffelnd an deine Nase.
Es gibt keinen Kompromiss. Du kannst nicht von ihr nippen. Der Donner bleibt Donner, der Blitz bleibt Blitz. Es gibt keinen Kompromiss. Entweder es gewittert oder es gewittert